„Avalanche – Anarchistische Korrespondenz“ auf Deutsch (Ausgabe 4)

Editorial:

Wenn die Macht heute aufgrund einer weitgehenden Restrukturierung auf ökonomischer, politischer und sozialer Ebene, eine Periode der Instabilität und Unsicherheit durchläuft, dann strebt sie unnachgiebig die totale Mobilisierung der gesamten Bevölkerung an. Genauso wie sie danach trachtet, einen neuen Konsens zu produzieren, eine neue Einwilligung der Subjekte in das Projekt der Herrschaft, oder, wenn nötig, eine nachhaltige Unterwerfung jener, die gestern noch widerspenstig waren. Deshalb überrascht es kaum, dass wir ein signifikantes Erstarken der Repression beobachten können. Was uns vielleicht überraschen könnte, ist eher die Geschwindigkeit mit der ganze Bereiche der Gesellschaft militarisiert werden, das Tempo mit der das rechtliche Rahmenwerk modifiziert wird und die Schnelligkeit des Eindringens der Technologien und Kontrollmaßnahmen in das Gesellschaftsgefüge.

Als Folge verschiedener Kriegserklärungen europäischer Länder (Libyen, Zentralafrika, Syrien,…) und den Attentaten in Paris, durch Kämpfer des heiligen Krieges, haben verschiedene Länder ein enormes Experiment, auf dem Gebiet der Sicherheit, in Gang gesetzt. Sogar die Soldaten in den Straßen, einst ein typisches Zeichen für Krieg oder für einen sich anbahnenden Aufstand, haben den Aufruf nicht verschlafen. Das ist, was laut Anti-TerrorismusexpertInnen erforderlich ist, um das „Territorium zu sättigen“, sowohl durch die physische Präsenz einer Flut Machtgläubiger als auch durch das Ertränken jedes Raumes für Reflektion durch die Propaganda für das System. In der Schusslinie sind offensichtlich nicht nur (um nicht zu sagen, nicht so viele) AnhängerInnen des heiligen Krieges, sondern alle, die für den „Frieden“ der Märkte und die Stabilität der Institutionen problematisch sind. Sowohl die für die kapitalistische Akkumulation überflüssige Bevölkerung, als auch erklärte RevolutionärInnen, sowie jene die an die Welt der Technologie nicht angepasst sind und RebellInnen der Straßen.

Gewissermaßen tendiert jeder Staat logischerweise hin zum Totalitarismus, welcher, gemäß der Epoche und der Periode, verschiedene Formen annehmen kann. Von einer faschistischen Diktatur oder einer martialischen Republik, hin zu einer Demokratie, welche die Höhepunkte der Niederschmetterung des Individuums erreicht oder einer Technokratie, die die gesamte Bevölkerung dem Vorrecht von Algorithmen und Maschinen unterordnet, annehmen kann. Totalitarismus involviert Alle, er benötigt die totale Mobilisierung, die volle Einwilligung. Wenn vor ein paar Jahren auf der anderen Seite des Mittelmeers, Aufstände unter dem Ruf nach Freiheit und Würde ausbrachen, sehen wir heute alle Staaten, in den meisten Fällen präventiv, auf die Möglichkeit einer subversiven Bedrohung antworten. Und Staaten, seien sie demokratisch oder despotisch, theokratisch oder technokratisch, schließen niemals irgendwelche Mittel aus, wenn es darum geht ihre Macht zu erhalten: Krieg, Lügen, Gefängnis, Terror, totale Kontrolle, Folter, Verschärfte Haftbedingungen, Mord.

Die Frage die sich für jene auftut, die im sozialen Krieg gegen jede Autorität kämpfen, ist, ob wir die Reflektionen, Mittel, Praktiken, Perspektiven und Projektualitäten haben, welche es uns erlauben die Initiative zu ergreifen, um zum Angriff auf die neue Ära, die sich selbst ankündigt, überzugehen. Nun ja, die Antwort kann nicht bejahend ausfallen. Auch wenn in jüngster Vergangenheit interessante Projekte entstanden sind und wichtige Erfahrungen, Waffen für die Zukunft geliefert haben, ist es klar, dass die Macht die Nase vorne hat. Wir könnten versuchen aufzuschließen indem wir alle Charakteristiken über Bord werfen, die uns von anderen unterscheiden, und – in der allgemeinen Kriegsatmosphäre, welche die Idee durch die Strategie ersetzt – hinter unwahrscheinlichen Allianzen mit autoritären Kräften oder hinter den, von einer Überdosis Staatspropaganda vergifteten, Massen herlaufen. Wir könnten uns weigern die neuen Umstände zu konfrontieren und damit weitermachen uns im Kreis der Selbstreferenzierung und Wiederholung zu drehen. Oder wir können, und das ist es was wir sehen, wenn wir die Texte lesen, die uns zugesandt wurden oder die wir für diese Ausgabe der „Avalanche“ zusammengesammelt haben, die Reflektion intensivieren, die Praxis der direkten Attacke schärfen, die Dimensionen der Selbstorganisierung und Informalität vertiefen, hartnäckig das Beiseitelegen unserer Ideen von Anarchie und Freiheit und den daraus folgenden Ansprüchen, unter dem Vorwand nach mehr Effizienz zu suchen, verweigern.

Die Herausforderungen, die sich am Horizont abzeichnen, sind, sofern möglich, sogar noch gravierender und schwieriger als die von gestern. Die Umstände in denen wir uns die revolutionäre Konfrontation vorstellen, sie denken und praktizieren, sind heute alles andere als günstig. Aber das verhindert nicht, dass überall auf der Welt AnarchistInnen dabei sind, sich ihren Weg zu bahnen, allen Widerständen zum Trotz, ihrem Angriffsparcours gegen alle Formen der Autorität folgend. Deshalb halten wir daran fest, dass die „Avalanche“, als ein Projekt der internationalen Korrespondenz, helfen kann, diese Parcours – eines autonomen und offensiven Anarchismus – miteinander zu verbinden und zu konfrontieren.

Inhalt:

Uruguay – Notwendige Einleitung zu einem noch notwendigeren Werk

Mexiko – Die libertäre Verteidigung mittels juristischer Sprache

Mexiko – Der Konflikt in Mexiko und eine Kritik am anarchistischen Milieu

Chile – Über die Gefahr, die Anarchie in eine Anreihung von „alternativen“ Praktiken, ohne offensiven Gehalt gegen die Macht, zu transformieren

USA – Wir heißen das Feuer willkommen, wir heißen den Regen willkommen

Schweiz – Gegen die „Stadt der Reichen“

Spanien – Die Büchse der Pandora und das Nähkästchen des spanischen Antiterrorismus

Italien – Die Legende des Tals, das es nicht gibt

Griechenland – Erklärungen von Andreas-Dimitris Bourzoukos zum Prozess von Velventos

Griechenland – Das neue Gesetz betreffend

Für Kontakt oder um die „Avalanche“ geschickt zu bekommen, schreibt an: avalanche-de@riseup.net

PDF (Druckversion)

Avalanche.noblogs.org

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