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Ein weiterer Brief von Nero aus dem Gefängnis

erhalten am 12.3.18

Von Schweinen die fliegen und Alles zerstörenden Feuerbällen!

Ein Resümee.

Ich packe meine letzten Sachen in die große Sporttasche, in der Hoffnung diese zu Hause auspacken zu können. Jeder hat mir dazu geraten im Falle einer Haftverschonung direkt vom Gericht aus in die „Freiheit“ zu entweichen. Nicht nochmal zurück in meine Zelle. Nicht nochmal zurück, um sich gebührend zu verabschieden. Nicht die Zeit die Sachen mit Gewissheit zu packen. Es kommt öfter vor, dass die Staatsanwaltschaft noch etwas findet, um dich doch da zu behalten. Ich verabschiede mich von meinen Haftbrüdern. Sie sind sich sicher, dass ich nicht zurückkomme. Genauso wie meine Freunde draußen. Meine Anwältin beschreibt die Verschonung als das wahrscheinlichste Ergebnis. Es fällt mir schwer meine eingeredete Neutralität zu bewahren und diese nicht in blinde Hoffnung umschlagen zu lassen.

Im Kiez ist viel los, Menschen die von Bar zu Bar taumeln. Es riecht verbrannt und Sirenen schneiden den Mix aus Musik und Gerede. Ich bin auf dem Weg nach Hause, als ich über mir das lauter werdende, drohende Dröhnen des Helikopters wahrnehme. „Jackpot! Den schick ich wieder nach Hause!“ schießt es in meinen Kopf. „Ach komm, du bist schon fast sicher zu Hause, in bunt und musst morgen früh raus.“ Ich fahre weiter. Ich komme an einem dunklen, menschenleeren Park vorbei. „Scheiß drauf! Wozu hast du das Ding denn eingepackt?!“ Ich steige vom Rad, verschanze mich im Gebüsch und visiere an. Ich warte darauf, dass er sich aus dem Strahl bewegt oder anfängt seinen Lichtkegel suchend in meine Richtung zu schwenken. Doch es passiert nichts. Er schwebt unbeeindruckt an derselben Stelle und leuchtet in die Rigaer. Nach einer gefühlten Ewigkeit fängt er an sich von mir weg zu bewegen. Endlich hat er es kapiert! Ich schnappe mir meine Sachen und trete in die Pedale. Ich fühle mich schon zu Hause, als das Dröhnen wieder zu hören ist. Ich habe das Gefühl, dass es lauter wird, während ich überlege meinen Stuff die Brücke runter zu schmeißen. Da ist der Heli schon direkt über mir.

Nach nicht endenden Türen und Schleusen werde ich von gut gelaunten Idioten gefilzt und in eine Gemeinschaftszelle gesperrt. Nach und nach füllt sich der Raum. Keiner redet, alle lauschen den scherzenden Idioten, die sich lautstark über ihr erbärmliches Leben und das vergangene Wochenende austauschen. Ich blätter gelangweilt meine Akte durch, versuche mich zu konzentrieren und alles nochmal durchzugehen. Die Beweislage ist erdrückend: Vollständig gefilmte Flucht. Laser, Handschuhe, Hassi, Zwille und Polenböller gefunden. Bei den Fotos meiner angeschwollenen Fresse muss ich lachen. Dazu kommt ein gut gefülltes Vorstrafenregister mit der letzten Verurteilung wegen schweren Landfriedensbruchs und Körperverletzung, bzw. versuchte schwere Körperverletzung gegen Vollstreckungsbeamte. Ein Jahr und vier Monate auf Bewährung habe ich damals bekommen. Die Bewährung ist erst vor einem Jahr ausgelaufen. Das einzige, was nicht klar aus der Akte hervorgeht, ist eine direkte Verbindung zu den Ausschreitungen in der Rigaer Straße und da das Ganze am Verkehrsgericht verhandelt wird, ist ein Politzusammenhang nicht unbedingt gegeben. Daher die Hoffnung auf einen Deal: Geständnis gegen kurze Haft und Haftverschonung bis zum Haftantritt. Solange die Strafe unter 12 Monaten bleibt und ich rauskomme, wäre das ein gutes Geschäft für mich. Da ich keine Reue oder Ähnliches zeige, kann ich meinen Stolz wahren und komme raus. So der Plan. Doch die Justiz spielt nicht nach deinen Plänen!

Zu spät! Die Bullen sind schon hinter mir. Plötzlich ist Berlin menschenleer, nur ich, der über mir schwebende Heli und die Streife hinter mir. Ich versuche gelassen zu wirken und wechsle die Straßenseite, um zu sehen, wie die Bullen reagieren. Tausend Gedanken schießen in meinen Kopf. Ganz ruhig? Flucht? Wo lang? Mit Bike oder zu Fuß? Wie komme ich dann nach Hause? Ich muss über die Spree! Und dann in den Park! Zur Brücke ist es nicht mehr weit! Hochschalten und ich fahre so schnell es geht. Zweiter Streifenwagen von vorne, ich weiche auf den Bürgersteig aus. Ich kann die Brücke sehen, da überholt ein dritter Wagen und versperrt den Weg, während parallel zu mir Blaulicht die Sicht nimmt. Ich bin ganz ruhig, trotzdem reißt mich ein Bulle von hinten vom Fahrrad. Ich lande auf dem kalten Asphalt. „Wo ist der Laser?“ brüllen sie, während mein Gesicht in den Boden gedrückt wird. Nachdem, trotz Schlägen und Hebelversuchen, kein Aufenthaltsort des Lasers aus mir rauszukriegen ist, dauert es etwas bis sie feststellen, dass es sich schlecht macht mich nach dem Laser zu durchsuchen und gleichzeitig mit Handschellen und fünf Schweinen zu fixieren. Der Inhalt meines Beutels liegt verstreut neben mir, als sie endlich den Laser finden. Professionell wird die Funktion und Farbe vor Ort in meinem Gesicht getestet. Ich überlege gerade wer meinen Hund morgen früh füttert und wie ich Ersatz auf der Arbeit organisiere, da werde ich gepackt und zum Streifenwagen geschliffen. Ich werde angeschnallt und zum Abschied mit der Faust geküsst.

Die aufgehende Tür unterbricht meine Gedanken. Ich werde aufgerufen und von der Sammelzelle durch mehrere Gänge in eine kleinere, alt wirkende Zelle verfrachtet. Ein Idiot fragt mich, ob ich meine Anwältin vor Prozessbeginn nochmal sprechen möchte. Langsam steigt die Aufregung. Wird viel Presse da sein? Sind meine Freunde gekommen? Stehe ich in zwei Stunden auf der Straße und schließe meine Liebsten in den Arm? Wird ein Deal zustande kommen? Endlich wird die Zelle geöffnet und ich werde über eine enge Treppe in den Gerichtssaal geführt. Ein antikes Gitter trennt mich vom Rest des Raumes. Spannungsvoll warte ich auf den Bericht von meiner Anwältin. „2,6 Jahre fordert der Staatsanwalt. Gegen Geständnis inklusive Rigaer, also Deckung von Straftaten, 1,6 Jahre mit Aussicht auf Haftverschonung, aber das ist keine Garantie.“ Ernüchterung macht sich in mir breit. „Du musst dich jetzt entscheiden!“ Ich versuche nachzudenken. Andere Verhandlungstage, weiter Moabit und hohe Haftstrafe oder weniger und eventuell heute noch rauskommen und wenn nicht, schnell in den regulären Vollzug?! Ich entschied mich für den Deal. Der Prozess war selten unspektakulär. Höhepunkt war die Zeugenvernehmung des Hubschrauberpiloten, der den hypothetischen Untergang Friedrichshains proklamierte und einen Absturz lebhaft skizziert hat. Ein Clown, der seine Rolle gut spielte.

Draußen höre ich die Bullen über Rigaerchaoten und Linksfaschisten reden. Sie sind sichtlich erregt über ihre Beute. Auf der Rückbank wird‘s kuschelig, mit zwei Schweinen, die versuchen mich Blick zu ficken. Angekommen im Hof der Wache werde ich mit verbogenen Armen und nach unten gedrücktem Oberkörper in‘s Revier geführt. Auf dem Weg macht mein Kopf Bekanntschaft mit dem Türrahmen. Bei der nächsten Tür versuche ich dies mit aktivem Gegensteuern zu vermeiden. Durch einen gekonnten Wurf lande ich unsanft auf dem Boden. „Wenn der mich nochmal schubst, knallt‘s!“ schreit er. Ich muss lachen. Das ist zu viel für ihn und er stürzt sich auf mich. Zum Zuschlagen kann er sich nicht überwinden. Er probiert lieber sogenannte Schmerzpunkte aus. Ich gönne ihm keine Genugtuung und versuche mir nichts anmerken zu lassen. Nach wenigen Minuten lässt er von mir ab. Ich liege auf dem Bauch und die Handschellen lassen meine Schultern und Oberarme brennend schmerzen. Ich werde liegend mir selbst überlassen. Immer mal kommen Bullen, die gerade erfahren haben, dass da eine „Rigaer-Zecke“ in ihrem Revier liegt, um entweder ihre Wut oder Neugier zu stillen. Anscheinend hatte das Friedrichshainer Revier vor Kurzem eine Weiterbildung in „Schmerzen zufügen ohne Spuren zu hinterlassen“ oder „Druckpunkte des Körpers“ absolviert. Jedenfalls haben die Männergrüppchen erst groß rumposaunt und gedroht „dass man doch mal das Licht ausmachen sollte“ und mir gleich „die Fresse poliere“, um sich letztendlich auf mich zu knien und an mir rumzudrücken. Da ich höchstens mal leise stöhnte, verloren sie schnell den Spaß. Nach vier bis fünf Stunden auf dem Bauch und tauben, schmerzvollen Armen wurde ich nach Tempelhof gebracht, ED-behandelt und gegen halb sieben gehen lassen. Zwei Wochen nach G20 wurde ich dann auf meiner Arbeit festgenommen und in U-Haft gesteckt. Fadenscheinige Begründung war mein Wohnsitz bei meiner Mum, der 500 km von meiner Arbeit in Berlin entfernt ist. Da trotz Ummeldung und angebotenen Auflagen am Haftbefehl festgehalten wurde und immer wieder neue Gründe gefunden wurden, die ihn rechtfertigten, war das nur ein dummer, scheinheiliger Vorwand.

Das Gericht zieht sich zurück! Ich hoffe noch immer auf Haftverschonung. Der Richter verkündet, dass diese aufgrund der nicht zusagenden Wohnverhältnisse nicht gewährt werden kann. Dann ist alles ganz schnell vorbei. Alle verlassen den Saal in die „Freiheit“ und ich werde wieder über die Treppe von Käfig zu Käfig in meine Zelle gebracht.

Nun sind seit den Ereignissen einige Monate vergangen und ich hatte Zeit diese zu verarbeiten und zu bewerten. Das, was mich am Meisten stört, ist dass ich diesen Deal eingegangen bin. Ich finde es nicht unbedingt falsch, aber dennoch ungünstig. In einem geführten Prozess hätte ich wohl eine ähnlich hohe Strafe erhalten. Zudem wird ein Geständnis von der Justiz anders gewertet, als ich dies tat. Für mich war und ist es einfach eine Antwort auf eine Frage:“Ja, ich habe vorgeworfenes getan.“ Punkt. Doch für die Exekutive ist es ein Schuldeingeständnis. Also eine Art Einsicht, dass man Verbrechen begangen hat. Alle Mitgefangenen haben mich fassungslos angestarrt, als ich ihnen erzählte, dass ich mich nicht entschuldigt habe und auch sonst keine Anstalten machte, um das Gericht milde zu stimmen. Für sie ist es ganz selbstverständlich Einsicht und Reue zu heucheln, um einer hohen Strafe zu entgehen. Doch ich wollte meinen Stolz und meine Würde behalten. Zumal es sich für mich um eine Tat aus Überzeugung handelt. In meiner Auffassung habe ich das auch trotz Geständnis. Was mir durch die Haft und den Prozess nochmal eindringlich klar geworden ist: wie kaputt diese Gesellschaft und im speziellen die Justiz an sich, in ihrem Fundament, ist. Ein großes inszeniertes Theater, in dem jeder seine Rolle spielt. Ein Theater mit tausend Kulissen und doppelten Böden. Der Pilot beispielsweise wurde nur verhört, um mir die Chance zu geben, mich persönlich zu entschuldigen. Dessen Aussage hatte keinerlei Auswirkung auf das schon vereinbarte Strafmaß. Wahrscheinlich wollte man bei dem öffentlichen Interesse noch den Anschein einer Verhandlung wahren. Das Gericht hatte auch nie vor mich Haft zu verschonen. So sollte nur Druck auf mich ausgeübt werden. Indem man mir die scheinbar realistische Aussicht auf Freiheit vor die Nase hielt, hoffte man auf ein Geständnis und eine unkomplizierte Verurteilung. Und auch wenn ich mir das damals nicht eingestehen konnte, hat die U-Haft ihre Wirkung bei mir entfaltet. Und wie ein Fisch schluckte ich den Köder. Die Krone setzte der Richter dem Ganzen in seiner Begründung auf. Indem er versuchte meinen Freund dafür verantwortlich zu machen, dass er mich, trotz seines sehnsüchtigen Wunsches, nicht gehen lassen kann. Komisch, dass vier Wochen später eine Haftverschonung mit der Gefahr des Untertauchens vom selben Richter abgelehnt wurde. Wie gesagt, alles ein großes Schauspiel. Als jemand, der gezwungen wird mitzuspielen, sollte man sich seine Rolle gut überlegen. Am Besten wäre es natürlich, wenn man gar nicht mitspielt, dem Richter sagt, was für ein Hundesohn er ist, nicht aufsteht und am Besten gar nicht erst zum Termin erscheint. Aber dann sitzen wir bald alle wegen fehlenden Lichts am Fahrrad. Alles wie immer ein Kompromiss. Den Widerspruch leben. Das Erlebte ist mein Kompromiss, bei dem ich Haltung bewahre. Ich hoffe, dass Menschen in ähnlichen Situationen meine Erfahrungen nützen. Dass darüber geredet und diskutiert wird und so ein Bewusstsein für das individuelle Handeln entsteht.

Viel Kraft den Companer@s in Afrin!

Ach ja und Knast kostet. Gebt mir euer Geld!

Liebe Grüße

Nero

Hintergründe zu Nero

Hamburg: Brief eines G20-Gefangenen aus dem Gefängnis Billwerder

Hamburg, Sommer 2017: Hier bin ich, hier bleib ich.

Quelle: Indymedia Nantes

Es sind fast anderthalb Monate vergangen, seitdem ich während des zwölften G20 Treffens in Hamburg festgenommen wurde. In einer Stadt, die von den Sicherheitskräften belagert und als Geisel genommen wurde, die aber auch zu dieser Gelegenheit einen bedeutenden Protest vor Ort hervorgebracht hat.

Zehntausende, wenn nicht mehr, aus ganz Europa und sogar darüber hinaus, sind gekommen, haben sich in einer großen Welle der Solidarität getroffen, aneinander angenähert, organisiert, debattiert und für mehrere Tage zusammen demonstriert. Sie waren sich zu jeder Zeit der Möglichkeit bewusst, Gewalt und Repression der Polizei ausgesetzt zu sein. Von Algeco wurde zu diesem Anlass sogar ein riesiges Polizeigericht (*aus Containern, samt Gefangenensammelstelle) errichtet, um jeden Protest gegen diesen Gipfel so schnell, wie möglich bestrafen zu können.

Meine Verhaftung basiert, so wie die von vielen anderen Gefährt*innen ebenfalls, alleine auf das unantastbare Wort der Polizei. Von einer Einheit, die die Aufgabe hat, zu infiltrieren, observieren und ihrer „Beute“ zu folgen (über 45 Minuten in meinem Fall, aufgrund eines vermuteten Wurfgeschosses). Wenn sie einen erst einmal isoliert haben, gibt es die Möglichkeit zur Verhaftung, indem sie Kolleg*innen schicken, die schnell und gewalttätig eingreifen und keine Möglichkeit zum Entkommen lassen.

So, hier bin ich, eingeschlossen an diesem für das reibungslose Funktionieren einer globalen Gesellschaftsordnung wichtigen Ort. Diese Orte dienen als Werkzeug für die Kontrolle und Steuerung von Armut und sind notwendig für die Aufrechterhaltung ihres „Sozialen Friedens“. Die Gefängnisse entfalten die Wirkung eines Damokles-Schwertes, das über jedem Einzelnen hängt, so dass alle davor “in Erstarrung” Abstand halten, von den Codes und dem Diktat einer etablierten Ordnung „zu arbeiten, konsumieren, schlafen“ abzuweichen, denen kein beherrschtes Individuum entkommen kann. Dadurch entfremden sie sich selbst bei der Arbeit und vom mit ihr einhergehenden Leben. „Pünktlich zu sein, ohne jemals aufzumucken“ und das nicht nur während der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen, wo von uns gefordert wurde, „in Bewegung“, “en march“ zu sein. (Die Parole von Macrons und der Name der Partei an der Macht) oder zu krepieren, aber vorzugsweise lautlos und langsam.

Da die Gesetzgebung weder allgemeinem Interesse dient, noch bestimmt ist neutral zu sein, ist sie  stattdessen der Ausdruck einer von den Mächtigen zunehmend eingesetzten Herrschaft. Sie wird eingesetzt, um ihr Eigentum und ihre Sicherheit zu gewährleisten und dadurch alle, die die Dinge anders sehen oder die sich dem nicht unterwerfen wollen,  zu lähmen, sanktionieren und marginalisieren.

Jenseits der Fälle von bekannten und unterstützten Aktivist*innen, die eingesperrt sind, gibt es auch und vor allem, diejenigen Männer und Frauen, die der Brutalität und Unmenschlichkeit der Gefangenschaft vollkommen ausgesetzt sind. Hier beträgt der Stundenlohn für die Arbeit einen Euro, wovon die Hälfte erst bei Entlassung ausgezahlt wird. In meinem Flügel werden Gefangene in Untersuchungshaft oder zu kurzen Strafen (zwischen sechs Monaten bis zu vier Jahren) Verurteilte, hauptsächlich nur aufgrund ihrer sozialen Bedingungen und Herkunft festgehalten. Außer der Bediensteten, sind wenige aus dem “Aufnahmeland”. Alle anderen  sind Ausländer, Flüchtlinge und / oder prekär, arm, durch das Leben geschwächt. Ihr Verbrechen: Sie haben sich mehrheitlich nicht den Spielregeln unterworfen, indem sie sich alleine oder in der Gruppe organisiert, am Drogenhandel beteiligt, Diebstähle oder Betrügereien begangen haben.

Haft ist eine primäre Säule dieses Systems. Sie kann aber nicht kritisiert werden, ohne die Gesellschaft, die sie produziert, anzugreifen. Das Gefängnis funktioniert nicht in Autarkie, es ist das perfekte Kettenglied zu einer auf verschiedenen Formen von Ausbeutung, Herrschaft und Trennung basierenden Gesellschaft.

Arbeit und Gefängnisse sind zwei primäre Eckpfeiler für soziale Kontrolle. Die Arbeit ist die bessere Polizei und die Wiedereingliederung eine ständige Erpressung.

Meine Gedanken sind bei den italienischen Gefährt*innen, die einer weiteren Repressionswelle ausgesetzt sind. Insbesondere, die beschuldigt werden, vor einer Buchhandlung von Casapound einen „Sprengsatz“ hinterlassen zu haben. Der extremen Rechte ist mit organisiertem, öffentlichen und offensiven Gegenangriff zu begegnen. Sie ist den Staaten nützlich und komplementär und nährt sich von ihren Bestrebungen und ihrem Wahn nach Sicherheit sowei einwe fortwährend geschürten Stigmatisierung von Ausländer*innen. .

Die Gedanken sind auch bei den Gefährt*innen, die für das Anzünden des Polizeiautos am 18. Mai letzten Jahres in Paris,   während der Bewegung (*gegen das Arbeitsgesetz)“Loi Travail” im September vor Gericht stehen. Viele Leute waren im Gefängnis und zwei sind immer noch eingesperrt. Ihnen viel Kraft.

Dank den lokalen Aktivist*innen, die Kundgebungen vor unserem Gefängnis organisieren. Eine Initiative, die hier sehr wertgeschätzt wird, weil sie die Routine und den Zustand der Lethargie durchbricht, der uns aufgezwungen wird. Dank an alle, die uns hier und überall unterstützen.

An Bro’, 161, MFC, OVBT, Jeunes Sauvages, denen von BLF und ander Freund*innen

Gefährt*innen, Kraft !

Befreien wir die G20 Gefangenen und alle anderen. Wir sind nicht allein.

Ein Eingesperrter unter anderen.

Gefängnis Billwerder,

Hamburg
14.08.2017

Brief des Mitstreiters Riccardo, eingesperrt in der JVA Billwerder, Hamburg

Italienischer Originalext, Übersetzung ins Englische: Act for Freedom Now, ins Deutsche: Indymedia Linksunten

Guard Gohlosh impersonated the most hideous wickedness: the wickedness at the service of the powerful of the Earth. A wickedness that could be converted to money. It didn’t belong to him any longer. He had sold it to more competent individuals who used it to enslave and mortify an entire miserable people. He was no longer master of his own wickedness. He had to guide it and direct it according to certain rules whose atrocity hadn’t changed much.’
 (Albert Cossery – Men God Forgot – 1994, free translation by act for freedom now)

Momentan befinde ich mich im Knast von Billwerder, in Hamburg. Ich wurde am Freitag, den 7. Juli um 19:30 in der Nähe der Roten Flora festgenommen.

Mir wird unter anderem vorgeworfen, den Staat beleidigt und die öffentliche Sicherheit gefährdet zu haben. Ausserdem wird mir vorgeworfen, aktiver Teil einer fünfzehnköpfigen Gruppe gewesen zu sein, die versucht haben soll, einen Bullen einer Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit angegriffen zu haben.

Ich verweigere die Dichotomie von „Schuld“ und „Unschuld“, die uns der juristische Apparat des Staates auferlegt.

Was ich sagen möchte ist, dass ich stolz und glücklich bin, während der Revolte gegen den G20 in Hamburg gewesen zu sein. Die Freude der persönlichen Erfahrung des Zusammenkommens so vieler Menschen jeden Alters und aus aller Welt, die sich noch nicht der totalen Logik des Geldes und der kapitalistischen Welt unterworfen haben, kann keine Form der Gefangenschaft bezwingen. In einer historischen Epoche, in welcher der Kapitalismus versucht, den finalen Schritt zu seiner absoluten Stabilisierung umzusetzen, in konstanter Oszillation zwischen innerem Krieg (Sondergesetze, Grenzschließungen, Abschiebungen) und äusserem Krieg (Massaker, Zerstörung und Vergiftung des Planeten Erde), zeigte die Revolte gegen den G20, was denjenigen, die immernoch etwas auf die Freiheit geben, am wichtigsten ist:

Die Möglichkeit ihrer Realisierung.

Die technologische, physische und taktische Effizienz der deutschen Polizei war ebenso beeindruckend und monströs wie nutzlos dafür, das Bedürfnis zum Kämpfen zunächst zu neutralisieren und dann zu unterdrücken – Kämpfe gegen die absurde, katastrophale globale Gesellschaft, für die die zwanzig lächerlichen Staatsoberhäupter so miserabel dastanden, in einer Festung im Herzen der Stadt.

Die Resignierten und Reformist_innen können sehr wohl sagen, dass Hamburg, im Anbetracht der Entwicklungen der Kräfteverhältnisse der letzten Jahre, ein weiteres Massenexperiment zur Stabilisierung des Apparats der internationalen Sicherheit war. Das ist im übrigen das gleiche, das Leute nach Genua 2001 behauptet haben.

Die Rebell_innen und Revolutionär_innen interessieren sich jedoch nicht für die Verschwörungen der Politik, sondern für ihre eigenen Gefühle und Projekte. So oder so kann gesagt werden, dass wenn es ein Experiment gab, dieses ein völliges Desaster war. In den Straßen Hamburgs habe ich unkontrollierte Freiheit geatmet, aktive Solidarität, die Entschlossenheit, die tödliche Ordnung, die uns von einigen Reichen und Mächtigen auferlegt wird, grundsätzlich Abzulehnen.

Keine endlosen Reihen von Autos und orchestrierte Prozessionen, die die unterdrückerische, mörderische Liturgie des kapitalistischen Alltags zementieren. Keine verschwommenen Massen, gezwungen, für den Reichtum eines widerlichen Chefs zu schwitzen und zu buckeln. Keine tausenden, abwesenden Augenpaare, gerichtet auf irgendein aseptisches Display, das unser Erfahren des täglichen Lebens verzerrt und entfremdet.

Ich sah Individuen, die in den Himmel blickten und versuchten, ihn zu greifen.
Ich sah Frauen und Männer, die ihrer Kreativität und ihren unterdrücktesten Träumen Gestalt gaben.
Ich sah die Energie eines jeden der versuchte, anderen eine Hand zu reichen und sich nicht über andere zu erheben.
Ich sah den Schweiß auf der Stirn derer, die ihre eigenen Wünsche zu erfüllen suchten und nicht die ihrer Peiniger. Im Moment der Revolte ist niemand wirklich alleine.

Eine kräftige Umarmung an alle Mitstreiter_innen, all die Rebell_innen, die der deutsche Staat eingesperrt hat. Leidenschaftliche Grüße an Anna, Marco, Valentina, Sandrone, Danilo, Nicola und Alfredo, an die Mitstreiter_innen, denen im Rahmen der „Operation Scripta Manent“ in Italien der Prozess gemacht wird. An die Revolutionär_innen und Rebell_innen in den Knästen auf der ganzen Welt… Ein Kuss an Juan, wo auch immer du sein magst.. wo auch immer du bist, du bist immer mit uns!

So lange ich lebe: immer gegen die Autorität! Immer mit dem Kopf oben! Lang lebe die antikapitalistische Internationale!
Für Carlo! Für Alexis! Für Remi! Für Freiheit!

Riccardo
JVA Billwerder, Hamburg, 20. Juli 2017