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Belgien: Über den kommenden Prozess gegen Anarchisten und Antiautoritäre

erhalten am 4.April

Wenn Kämpfen für die Freiheit ein Verbrechen ist, dann ist die Unschuld wirklich das Schlimmste, was einem passieren kann.

Über den kommenden Prozess gegen Anarchisten und Antiautoritäre in Belgien

Ende 2008, während sich zerstreute Feindseligkeiten durch die Revolte in Griechenland entfesseln, nachdem Alexis dort durch die Polizei ermordet wurde, eröffnet das Federaal Parket (Bundesstaatsanwaltschaft) Ermittlungen gegen AnarchistInnen und Antiautoritäre in Belgien. Im Jahr 2010, während sich der Kampf gegen den Bau eines neuen Abschiebegefängnisses in Steenokkerzeel sich seinen Weg bahnt, wird auf Basis einer Liste von Aktionen, welche die Polizei der „anarchistischen Bewegung“ zuschreiben, eine Untersuchungsrichterin, Isabelle Panou, berufen. Die Ermittlung fällt ab diesem Zeitpunkt unter Antiterrorismus. Im Mai und danach im September 2013 finden rund zehn Hausdurchsuchungen im Rahmen dieser Ermittlungen statt, u.a. auch in der anarchistischen Bibliothek Acrata in Brüssel. Erst zu diesem Zeitpunkt wird zum ersten Mal etwas von den laufenden Anti-Terrorismus Ermittlungen vernommen. Aus den Akten wird sich herausstellen, dass nicht nur die Gerechtelijke Federale Politie (Bundesgerichtspolizei) dabei eingebunden ist, sondern auch die Staatsveiligheid (Staatssicherheit), der Militaire Inlichtingendienst (militärischer Nachrichtendienst) und verschiedene antiterroristische Abteilungen anderer europäischer Länder. Im Jahr 2014 wird das Dossier geschlossen und zwölf Anarchisten und Antiautoritäre werden jetzt an die Raadkamer (Beschlusskammer des Gerichts) überwiesen.

Nach einer Sitzung, um die speziellen Untersuchungsmethoden, die im Rahmen dieser Untersuchung verwendet werden zu legalisieren (Observationen, Telefonüberwachung, das Anbringen von Mikrofonen in einem Haus, versteckte Hausdurchsuchungen, Infiltrationsversuche und das Anbringen von Videoüberwachung vor Häusern und in einem Haus) im Oktober 2015, wird das Dossier jetzt also an die Raadkamer weitergeleitet. Die Sitzung der Raadkamer wird am 10. Mai 2016 stattfinden. Dort wird beschlossen werden, ob es zu einem Prozess kommt und mit welchen Anklagen.

Die Staatsanwaltschaft hat aus ihren jahrelangen Ermittlungen nicht weniger als 29 Anklagepunkte herausgesaugt. Neun Gefährten werden der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und der Teilnahme an terroristischen Aktivitäten über kürzere oder längere Zeit beschuldigt. Drei von ihnen werden beschuldigt die „Anführer“ davon zu sein. Drei andere Personen, die nach einem Angriff auf das Polizeikommissariat in den Marollen verhaftet wurden, werden beschuldigt einen Tag lang Mitglieder dieser terroristischen Gruppe gewesen zu sein, abgesehen von anderen Anklagen in Zusammenhang mit diesem Angriff. Das allgemeine Schema wird mit spezifischeren Beschuldigungen ergänzt, wie der Teilnahme an einer wilden Demonstration vor dem Abschiebegefängnis 127bis in Steenokkerzeel (durch die Staatsanwaltschaft zum “Versuch der freiwilligen Brandstiftung“ gemacht), Vorbereitung und Teilnahme am Angriff gegen das Polizeikommissariat in den Marollen (durch das Parket als “terroristisches Verbrechen” eingestuft), Schlagen und Verwunden von Polizeibeamten, Blockieren der öffentlichen Straße, verschiedenen Beschädigungen, Ladendiebstähle, Brandstiftungen an Wägen von Schließern auf dem Parkplatz des Gefängnisses von Ittre, Anstiftung zu terroristischen Verbrechen,… Diese spezifischen Anklagen richten sich jeweils gegen bestimmte Kam, nicht alle werden also der gleichen Sachen beschuldigt.

Als roten Draht, der sich durch die jahrelangen Ermittlungen zieht, die nicht weniger als 32 Kartons Papier produziert haben, geht die Staatsanwaltschaft vom Bestehen einer anarchistischen „terroristischen Gruppe“ aus, die im Großraum Brüssel aktiv sein soll und deren Aktivitäten die Angeklagten „gefördert” oder daran teilgenommen haben sollen. Im Dossier kann man beispielsweise eine lange Liste mit 150 Angriffen, von ihnen ein Großteil Brandstiftungen, gegen Strukturen der Macht finden: Kommissariate, Gerichte, Banken, Firmen, die Geld verdienen mit dem Einschließen von Menschen, Werften, Fahrzeuge von Diplomaten, NATO-Mitarbeiter und Eurokraten, GSM-Masten,… die in Brüssel und der näheren Umgebung in den Jahren 2008 bis 2013 stattgefunden haben.

Die Erfindung einer terroristischen Gruppe, die für diese Taten verantwortlich sein soll (auch nur, durch sie „möglich gemacht zu haben”) erlaubt der Staatsanwaltschaft akrobatische Sprünge: eine Bibliothek wird ein Rekrutierungsort, Diskussionen zu klandestinen Versammlungen, zahllose Pamphlets und Zeitungen zu Anleitungen zur Stadtguerilla, Versammlungen und Demonstrationen zu Aufrufen zu terroristischen Verbrechen, Affinitäten zwischen kämpfenden Menschen und die Selbstorganisation, die daraus entsteht, zu einer „strukturierten terroristischen Gruppe“). Das stellt natürlich einen unbeholfenen Versuch des Staates dar, antiautoritäre und revolutionäre Subversion auf das Werk einer einzigen „strukturierten Gruppe“ zu reduzieren. Indem er probiert eine Handvoll Anarchisten, die stören, hinter Gitter zu bekommen, versucht der Staat die Ungehorsamen zu entmutigen zur direkten Aktion gegen das überzugehen, was uns unterdrückt und ausbeutet, und den Sehnsüchten, Möglichkeiten, Gedanken und Kritiken, die den Kampf mit dieser autoritären Welt eingehen, absolute Stille aufzuerlegen.

Dasjenige, was sie vor den Richter schleppen wollen ist also ein ganzen Mosaik von Kämpfen, Revolten, direkten Aktionen, revolutionären Phantasien und Agitationen, die schon seit Jahren versuchen die Herrschaft anzugreifen. Deshalb geht der eventuelle Prozess nicht nur die Beschuldigten an, sondern gleichermaßen jedes Individuum, jeden Anarchisten, jeden Revolutionär, jeden Rebell, jeden Ungehorsamen, der gegenüber der Ausbeutung und Unterdrückung die Hände nicht in den Schoß legen will. Worauf sie abzielen, ist die Suche nach praktischer Autonomie, Selbstorganisation im Kampf, direkte Aktion in all ihren Verschiedenheiten, die Wahl anarchistische Ideen zu verteidigen und zu verbreiten und zusammen mit anderen Teil zu nehmen an selbstorganisierten und autonomen Kämpfen. Und schließlich will der Staat zweifelsohne der kämpferischen Herangehensweise des Anarchismus einen Schlag versetzen, welche sich auf dem Individuum, Affinität und Informalität basiert.

Es wäre sonderbar die Repression, die heute eine Handvoll Anarchisten und Antiautoritäre trifft, unabhängig von der Gesamtheit an Repression zu sehen, die (oft präventiv) alle Kritik an der bestehenden Ordnung und die Revolte gegen diese versucht zu unterdrücken. Die staatliche Repression schaltet in diesen Tagen in einen höheren Gang, den Rhythmus von “terroristische Bedrohungen”, Flüchtlingskrise, Kampf gegen die Kriminalität und sehr realen Kriegen. Wir leben in einer Periode, in der Veränderungen und Umstrukturierungen immerzu schneller das Terrain der sozialen Konfliktualität ändern. Diejenigen zu neutralisieren, die aufgrund ihres Gedankenguts und ihrer Taten stören, macht deshalb wiederum Teil des Gesamten aus, das wie immer die Ausgebeuteten, Ausgeschlossenen und Unterdrückten trifft: die Verhärtung der Lebensumstände, die Militarisierung der Grenzen, eine massive technologische Kontrolle, der Bau von neuen Gefängnislagern,…

Sich gegen diesen repressiven Schlag zu verteidigen, der Kameraden mit Beschuldigungen von Terrorismus vor Gericht schleppen will, bedeutet die Möglichkeit und den Raum für anarchistisches und antiautoritäres Handeln zu verteidigen. Und durch Solidarität mit den beschuldigten Kameraden der staatlichen Repression, die jegliche subversive Aktion lahmlegen will, die Stirn zu bieten.

Wenn Kämpfen für die Freiheit ein Verbrechen ist, dann ist die Unschuld wirklich das schlimmste, was einem passieren kann.

April 2016

WEITERE INFORMATIONEN UND KONTAKT
La Lime
Solidaritätskassa Brüssel
lalime@riseup.net
Treffen jeden ersten Montag im Monat um 19:30 in Acrata
Acrata
Anarchistische Bibliothek
acrata@post.com
Grooteilandstaat 32 – Brüssel

Belgien – “Operation Asche”: Häuser von GenossInnen gerazzt und durchsucht

Brüssel – 22. Mai 2013, gegen 6 Uhr früh führten dutzende Polizeikräfte der Antiterrorabteilung der Bundesjustizpolizei eine Razzia in drei Wohnungen durch, wo neben anderen Leuten anarchistische und antiautoritäre GenossInnen leben. Die Bullen durchsuchten auch die anarchistische Bibliothek Acrata. Alle Anwesenden wurden festgenommen und in die Büros der Bundespolizei gebracht.

Die Anklagen lauten: Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation, Verschwörung und Brandstiftung. Der Einsatz heißt “Asche” (Opération Cendres) und wird von der ermittelnden Richterin Isabelle Panou geleitet, die wegen ihrer langjährigen Karriere im öffentlichen Dienst berüchtigt ist.

Die Polizei beschlagnahmte viele Dokumente, persönliche Sachen, Computer und alles was mit ihnen in Verbindung steht, GSM (Handys), Agitationsmaterial, etc. Im Laufe der Verhöre – bei denen alle die Zusammenarbeit verweigerten – wurde klar, dass die Untersuchung die Kämpfe, Revolten und Aktivitäten von 2008 bis heute abdeckt. Sie beinhaltet auch jene gegen Gefängnisse, den Bau einer neuen Jugendstrafanstalt in Steenokkerzeel, das Brüssler Verkehrsunternehmen (STIB/MIVB), die europäischen Institution und die Eurokraten, den Bau eines RER (“Regionales Express(bahn)netz”) in Brüssel, die NATO, die Abschiebemaschinerie, die Büttel und den Bau eines Maxigefängnisses in Brüssel. Auch Veröffentlichungen wie z. B. Hors-Service (Außer Betrieb) wurden ausgewählt und allgemeinere Texte, Plakate etc., die von AnarchistInnen und Antiautoritären verteilt wurden.

Gegen 13 Uhr wurden alle ohne richterliche Vorführung entlassen.

Im Angesicht von Terrorismusvorwürfen, ihrer massiven Einschüchterung und Schikane ist es entscheidend, dass wir uns nicht von unseren Ideen und Aktionen, die auf die Zerstörung jeglicher Autorität abzielen und der Freude dieses Kampfes abwenden.

Lasst uns unseren Kampf für Freiheit fortsetzen, um diese tödliche Welt, die unterdrückt und ausbeutet, zu Fall zu bringen.

Nichts ist vorbei, alles geht weiter
Greifen wir an, was uns unterdrückt

Brüssel, 23. Mai 2013