SCHWARZER SEPTEMBER: Ein Blick auf die anarchistische Vergangenheit und Gegenwart in $hile

In Villa Francia, Santiago (Hauptstadt von $hile) , wurde in den frühen Stunden des 11. Septembers ein Mensch erschossen. Als Opfer wurde   der 22-jährige Cristopher Ramos Contreras indentifiziert. Die Schießerei fand während Unruhen statt, es gab Barrikaden und an vielen Punkten der Metropole und auch in weiter abgelegenen Gebieten Zusammenstöße mit den Repressionskräften.

Der 11. September 1973 war der Tag, an dem Diktator Pinochet durch brutale Gewalt und Unterstützung der USA die Macht übernahm. Erst im Jahre 1990 wurde er abgewählt, blieb aber bis 1998 Oberbefehlshaber des Heeres. 1998 fand zum Jahrestag des Putsches eine Demonstration in Santiago de $hile statt. Die anarchistische Studentin und Tänzerin Claudia Lopez wurde bei Barrikadenkämpfen von der Polizei erschossen. In ihrem Namen und in Gedenken an alle, unter den Bedingungen der Demokratie staatlich Ermordeten, bekämpfen seitdem unter der Parole des „Schwarzen Septembers“ Demonstrierende die Polizeibrutalität und staatliche Repression.

Dieses Jahr wurden während eines Generalstreiks Ende August unter der Amtsführung  des amtierenden  Staatspräsidenten Piñeras,  zwei weitere Menschen durch die Polizei ermordet (der 16-jährige Manuel Gutiérrez Reinoso und der 18-Jahre alte Mario Parraguéz Pinto).

Es folgen einige Auszüge einer Erklärung die Anti-Autoritäre/ AnarchistInnen aus Anlass des 11. September 2011 veröffentlicht haben. Den vollständigen Text könnt ihr hier (englischsprachig) nachlesesen:

Für einen kämpferischen und kreativen 11. September
Auf die Straße, mit Feuer und Erinnerung
Claudia Lopez ist immer bei uns.

Für uns steht jeder September für die lebendige Erinnerung an die Repression und für staatlichen Terrorismus gegen die Ausgebeuteten und Rebellen, in der Diktatur und der Demokratie. Für die meisten steht dieses Datum symbolisch für die Erinnerung an die Diktatur, die Periode als die Gewalt für die Mehrheit der BewohnerInnen ständig präsent und sichtbar war. Nach dem 11. September 1973 wurde die Herrschaft offen repressiv. In den ersten Jahren kam es zu unendlich vielen Verhaftungen, Morden, Folter und Verschleppungen. Später wurde dann selektiver gegen Mitglieder militanter politischer Gruppen vorgegangen. Der Sinn war die Unterdrückung der Organisation und des Kampfes, der sich durch Selbstorganisation, Betriebssperrungen und Landbesetzungen auszeichnete und Leben in die kämpfenden Kommunen brachte, das  später in den 90ern durch die demokratische Regierung durch Drogen vergiftet wurde.

Um es direkt klarzustellen: Salvador Allende ist nicht unser Genosse. Kein Präsident kann unser Gefährte sein.  Die Figur des Allende repräsentiert den reaktionärsten Sozialismus, der danach strebt friedlich und über Wahlen die Energie der ausgebeuteten Klassen in staatliche Entwürfe des sozialen Wandels zu kanalisieren. Es ist das wiederkehrende Bild einer “populären” Regierung, die letzten Endes die Interessen und Projekte einer Herrschaft von Organisationen und den politischen Parteien an der Macht vertritt. So geschehen 1917 in Russland, 1936 in Spanien, in den 50er Jahren auf Cuba,  wir könnten Stunden damit verbringen, auf weitere Beispiele einzugehen.

Der Fall von $hile ist besonders hervorzuheben, weil ihm weltweit Beachtung geschenkt wurde. Es gab Zeiten im Kalten Krieg, in denen die Welt zwischen zwei Blöcken aufgeteilt war. Auf der einen Seite die Staaten, die der kapitalistischen, demokratischen Domäne des Yankee-Imperialismus folgten, anderseits die Staaten in Gefolgschaft zum autoritären,  sozialistischen Modell der Sowjetunion. (…) Im radikalsten marxistischen Lager (welches nicht blind dem totalitären russischen Modell folgte) gab es Einzelne, die sich in bewaffneten Gruppen organisierten und die es bezweifelten, dass eine Revolution durch Wahlen herbeizuführen wäre. Gruppen, wie die RAF in „Deutschland“ postulierten diese Frage und verfolgten aufmerksam die „chilenische“ Situation. Die Naivität der Regierung Allende und ihre kleinbürgerliche Haltung kam zu dem Schluss, dass der bürgerliche und internationale Kapitalismus ruhig bleibt und zuschaut, wie ein sozialistischer Staat ihre Firmen enteignet. Die Ausgebeuteten durchbrachen die Grenzen dessen, was die Regierung erlaubte. Sie rissen die Zäune der Felder ein, um das Land zu sozialisieren oder ergriffen die Waffen, um die Fabrik- und Landbesetzungen zu verteidigen. Die Haltung der Regierung war ein großer Fehler, weil das chilenische Militär durch die “USA” längst in Techniken, wie Sabotage und Folter geschult wurden und  Strategien erlernte, den Krieg gegen alles zu führen, was linke Regierungen zur Machtübernahme unternahmen. Ebenfalls wurden kleinbürgerliche StudentInnen der katholischen Universität  Santiagos auf der Universität von Chicago darin gelehrt, wie sie das „neoliberale“ Modell  in Chile einführen und umsetzen können.  .

Deshalb ist Allende kein „Genosse“. Weil er  nicht radikal mit dem System gebrochen hat, sondern es vielmehr reformierte und auf den Staat setzte, der immer Verstümmler der Freiheit ist.  .

(…)Die verdorbenen Persönlichkeiten, die heute als Opposition der Regierung und Verteidiger des Rechts in  Erscheinung treten sind für Verfestigung des Kapitalismus in “$hile” auf eine Art und Weise verantwortlich zu machen, die anderen Staaten als Modell dient. Sie haben zu verantworten, dass natürliche Ressourcen in Handelswaren verwandelt werden, die jede “chilenische” und auswärtige Unternehmung kaufen will. Sie sind die Verantwortlichen für die Auflösung der organisatorischen Bindungen in ausgebeuteten Vierteln. In historisch rebellische Gegenden brachten sie den Drogenhandel, das Konkurrenzdenken, den kapitalistischen Individualismus, die Angst vor Kriminalität  sowie das Vertrauen in Exekutivorgane. Die selben Leute, die heute auf der Straße marschieren und ihre heuchlerischen Flaggen hochhalten, haben gestern noch all jene verraten, die im Kampf gegen die Diktatur an ihrer Seite gekämpft haben. Sie wurden zu Spitzeln, organisierte repressive Organe, die die Arbeit des vorherigen Regimes fortsetzten und Folter anwendeten, in Haft nahmen, bis hin zur Ermordung der KämpferInnen, die sich nicht der demokratischen Illusion hingegeben hatten.  Sie errichteten das Hochsicherheitsgefängnis, um das Subversive wegzuschließen  und behaupteten, dass es keine politischen Gefangenen in “$hile” gibt. Sie füllten die Straße mit Kameras und Polizei und riefen die Menschen zur Mitarbeit auf. Sie waren es, die sagten es gäbe keine Gründe mehr für  Widerstand. Sie kriminalisierten soziale Proteste und übten brutale Unterdrückung in den Gebieten der Mapuche und gegen andere aus, die ihre Unzufriedenheit ausdrückten. All dieses geschieht durch diese HeuchlerInnen; und sie haben es mit der stillen Komplizenschaft der  Menschen getan, die jetzt die BürgerInnen genannt werden, für immer frei von Würde und Erinnerung.

Claudia López steht für eine Generation von Compañeras/-os, die sich inmitten einer Lethargie der Unterdrückten und nach der Zerschlagung der leninistischen Guerilla-Offensive entschlossen hat den Konflikt gegen die Herrschenden fortzusetzen. Anarchistische Ideen und Werte begannen sich in den gewaltsamen Aktionen dieser GefährtInnen auszudrücken. (…) Auch wenn sie nicht in ihrem Alltag so kämpferisch gewesen sein sollten, wie „auf den Barrikaden“ (wir wollen sie nicht  idealisieren) erinnern wir an ihre Entscheidung Widerstand zu leisten. Sie sind unsere Vorbilder für die Entwicklung einer anti-autoritären Offensive.

Claudia López starb am 11. September 1998. Sie wurde hinterrücks von der Polizei an einer Barrikade in der Gemeinde La Pincoya erschossen. Sie fiel im Kampf. Ihr Tod war der Auftakt für eine Reihe weiterer Morde, allesamt verübt durch die demokratische Ordnung. u.a. Daniel Menco, Alex Lemún, Jhonny Cariqueo, GefährtInnen, die das neue soziale Subjekt darstellen und zum neuen “Feind im Inneren des Staates” wurden, bei dem die Macht seit den frühen Jahre 2000 besonders hart durchgreift: AnarchistInnen, Mapuche, zahlreiche Encapuchadxs (Vermummte).

Wenn einige von uns, AnarchistInnen/Anti-Autoritäre jeden 11. September auf die Straße gehen, wollen wir damit die Kontinuität des diktatorischen Vermächtnis demonstrieren und verdeutlichen, dass die Demokratie ebenfalls foltert und tötet, dass sie auch kontrolliert und betrügt, mit verfeinerten Techniken. Aber der Tod von unserer Gefährtin Claudia Lopez lässt diesem Datum geschichtlich noch eine andere Bedeutung zukommen. Wir fühlen uns verpflichtet ihr Gedächtnis in der Aktion lebendig zu halten. (…) Weil Erinnerung letztlich nichts anderes darstellt als das dauerhafte Gedächtnis an das Leben unser GefährtInnen und unser eigener Widerstand durch ihre Lebensentwürfe wichtige Impulse enthält.

Möge ihr Leben niemals vergessen werden, möge es mit jeder angezündeten Barrikade weiter brennen.(…)

… Unser Gerechtigkeit wird Rache sein.

Für unsere Freiheit
SIN FRONTERAS NI BANDERAS
Ohne Grenzen, ohne Flaggen
September 2011

Der diesjährige 11. September 2011

Wie erwartetet weiteten sich die “Schwarzer September” Aufstände dieses Jahr aus. In Santiago kam es nach dem Ende einer Demonstration von Menschenrechtsorganisationen zum 38. Gedenktag des Putsches am Zentralfriedhof zu heftigen Zusammenstößen. Hunderte Encapuchadxs (vermummte DemonstrantInnen) griffen die Polizei, Heckenschützen einer Spezialeinheit und  die pacos de rojo (rote Polizei) an. Massenmedien wurden gezielt angegangen und erlitten schwere Schäden, weil ihre Ausrüstung zerstört wurde. .

Die Unruhen erstreckten sich in der Nacht über verschiedenen Gebiete Chiles. Zusammenstöße mit der Polizei, Barrikadenkämpfe, Plünderungen und Zerstörung ereigneten sich in zahlreichen Großstädten. Wegen der sogenannten Cadenazoz (eine beliebte und übliche Aktion bei der Eisenketten auf Stromleitungen geworfen werden was zum Kurzschluss führt) kam es zu Stromausfällen. Nach Beendigung der Proteste zum 11. September waren immer noch mehr als 280.000 Leute im ganzen Land von Stromausfällen betroffen. (Der Stromkonzern Chilectra berichtete, dass 135,000 Haushalte der Metropole zeitweilig ohne Strom waren.) Busse wurden angezündet, Supermärkte geplündert und in Brand gesetzt, Kirchen gestürmt und beinahe niedergebrannt.

Während der diesjährigen Nacht des “Schwarzen Septembers” wurde in der Hauptstadtregion von Santiago, der Gemeinde Bosque die 15-jährige Javiera Molina Araya an einer Barrikade durch eine Kugel schwer im Brustbereich verletzt. Wie in früheren Fällen beschrieben die SprecherInnen der Macht (die Presse) den Vorfall als “Abrechnung zwischen kriminellen Banden. Tatsächlich sind Kämpfe zwischen Jugendlichen  häufig, aber in der Nacht der Konfrontation sind die Unterdrückten auf der einen Seite, die Repressionskräfte auf der anderen Seite der Barrikade und Schüsse gehen von der einen Seite zur anderen. Javiera befand sich auf unserer Seite, nicht die Polizei. In einem sehr kritischen Zustand wurde das Mädchen ins Krankenhaus gebracht. In der selben Nacht gab es in Chile insgesamt 280 Verhaftungen. Den meisten wird Diebstahl und Plünderung vorgeworfen. Anderen die Störung der Ordnung oder  „Tätlicher Angriff auf die Polizei“. Einige Leute landeten aufgrund ihres Vorstrafenregisters oder eines laufenden Haftbefehls im Gefängnis. Allein in Villa Francia verhaftete die Polizei 14 Personen, 14 Polizisten wurden verletzt, einer verlor ein Auge und ein anderer wurde von 40 Schrotkugeln in Arme und Beine getroffen.

Wenige Tage später, am 15. September wurde der 22-jährige vegane Gefährte Cristobal Bravo Franke, als er auf einer Straße ging, durch die Polizei verprügelt und verhaftet. Jetzt ist er es, der beschuldigt wird die Polizei angegriffen zu haben. Uns kann diese Situation, wenn unsere MitstreiterInnen verfolgt, schikaniert und eingesperrt werden, nicht gleichgültig sein. Wir wissen, dass die Presse Lügen verbreiten und üble Nachrede gegen Christobal betreibt. Es ist eindeutig ein weiterer verzweifelter Versuch radikale Gesellschaftsteile als Geiseln zu nehmen und die Leute exemplarisch zu bestrafen, die sich den Gesetzen nicht fügen wollen und es ablehnen unter autoritären Regeln zu leben.

Linkliste von Projekten, die weitere Informationen zum Thema bieten

[ AUF ENGLISCH ]
· waronsociety.noblogs.org
· thisisourjob.noblogs.org/post/2011/09/27, Liste $hilenischer politischer Gefangener (Stand September 2011)
[ AUF SPANISCH ]
· liberaciontotal.lahaine.org
· www.hommodolars.org
· accionanarquista.blogspot.com
· vivalaanarquia.wordpress.com
· www.saboteamos.info
· www.accionpropaganda.org
· www.sabotagemedia.anarkhia.org
· www.fel-chile.org
· periodico-solidaridad.blogspot.com
· www.santiago.indymedia.org

Anarchist Black Cross Berlin hat Texte zum Thema Gefangene ins Deutsche übersetzt.

Im Internet könnt ihr euch auch einen interessanten englischsprachigen Film des Kollektivs „Subversive Action Film” anschauen.

Freiheit und Solidarität allen von staatlicher
Repression betroffenen Compañeras y Compañeros!

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