Argentinien: Die Demütigung der Normalität

Von Boletín La Oveja Negra:

Während sich an verschiedenen Orten der Welt eine aufkommende Aggression zu zeigen, zu materialisieren und zu organisieren beginnt, lebt die Masse der Bevölkerung des argentinischen Staates in einer Art Blase. Die Regierung einfach zu kritisieren reicht aus, um einer Seite zugeordnet zu werden. Zu einer anderen Seite wird mensch zugeordnet, wenn es um Unternehmen geht. Obwohl niemand sicher weiß, was die eine oder andere Seite ausmacht, scheint es zwei von ihnen zu geben.

In jüngster Zeit reduzierte sich Politik auf die einfache Frage der Identität. Die Parole des breiten Anti-Kirchner Spektums war ‘N8 – Ich gehe’ [1] während RegierungsunterstützerInnen jeglicher Couleur darauf antworteten: ‘N8 – Ich gehe nicht.’ Aber seit wann ist es wichtig bekanntzugeben, dass mensch nicht auf einen Aktionsaufruf antwortet? Vielleicht seitdem sich eine zunehmende Abhängigkeit von Facebook und seinen Gepflogenheiten breit macht oder seitdem Politik ihren elendsten Aspekt selbst gezeigt hat: Die Zuordnung einer Identität zu jedeM, der/die das Gefühl hat, einer Gruppe oder Fraktion anzugehören. Auf diese Weise werden Debatten nur Anhängsel, die einfach dazu genutzt werden, eine Parteilinie zu verstärken, die bereits vorher gewählt und nicht auf der Grundlage von Wahrhaftigkeit oder Stärke ihrer Forderungen gewählt wurde. Weil sie genauso gut der einen oder die anderen Seite dienen können, geht es bei jedem Argument nicht darum, Sinn zu erzeugen, sondern die eigene Empfindsamkeit aufzuerlegen. ‘Die eigene’ ist in diesem Zusammenhang nur ein sprichwörtlich zu verstehen, weil dieses Zartgefühl nicht mehr als die Argumentation der einen oder anderen bürgerlichen Fraktion ist.

Die ‘Debatten’, die als das Zentrum der Diskussion dargestellt werden, sind nichts weiter als unwichtige Füller in einer Identität, die – wenn es nicht darum geht, eine Religion oder eine Fußballmannschaft zu konsumieren – dasselbe tut wie die Politik. Persönliche Diskussionen haben sich televisuellen Dynamiken angenommen, die sie großzogen: Nachrichtenformate, Pseudo-Investigationen und (endlose) Wiederholungssendungen. NachbarInnen, Familienmitglieder, MitarbeiterInnen und Internet-Communities reden, als wenn sie ein Teil von einer im Fernsehen übertragenen Talkrunde wären, in der nichts mehr auf dem Spiel steht als Meinungen. In der Zwischenzeit geht das alltägliche Leben weiter – unverändert…

Ohne die Bombardierung der Massenmedien, diese mise en scène [Inszenierung], wäre es ziemlich schwierig – so viele inter-bourgeoise Kämpfe würden in den Bürogebäuden hinter verschlossenen Türen stattfinden oder auf den Bankkonten. Aber beide Franktionen haben sich an dem Druck auf die Bürgerschaft beteiligt – das heißt der Reduzierung auf die Kategorie des/der Bürger/in von jedem/r, der/die in Argentinien lebt, ohne eine Unterscheidung zwischen der gesellschaftlichen Klasse zu machen, gefangen zwischen den zwei Optionen der Repression und Ausbeutung. Das ist die Bedeutung des D7 (7. Dezember) und dem ‘Mediengesetz’. [2]

Selbst für die meisten nachdenklichen Intellektuellen – aus der einen oder anderen Fraktion – beginnt die häufig kritisierte ‘Idiotenbox’ mehr als nur Idiotien zu senden – was immer vom Fernsehbesitzer abhängt.

Die Bedeutung, die dem D7 zugemessen wird, liegt fern ab der uneindeutigen Ergebnisse des rechtlichen Konflikts, ist aufgrund der Fähigkeit beider Seiten, ihre Positionen bestärkt beizubehalten, und über allem die Idee, dass es unmöglich ist, außerhalb der ‘Diskussion’ zu sein. Daher wird sie genauso wie das Wahlrecht verteidigt trotz der Auffassung, ‘dass alle sowieso der gleiche Scheiß seien’. Menschen reden von freier Meinungsäußerung, aber haben nichts neues zu sagen und auch viel geringeres Verlangen danach, ihre eigenen Mittel hervorzubringen, um sich auszudrücken. So wie es mit allen demokratischen Freiheiten läuft, werden Äußerungen vom Staat kontrolliert und vom Kapital bestimmt. Wenn du ihre auferlegte Ordnung radikal kritisieren willst, ist es nicht ratsam, die Gesetzgebung dazu heranzuziehen. Die Medien des Feindes zu nutzen, um sich eine Stimme zu geben, hat noch nie positive Resultate erzielt.

Wir werden von Tag zu Tag mehr politisiert, aber im schlimmsten Sinne des Begriffs: Jeden Tag werden wird mehr verbürgerlicht, mehr institutionalisiert. Der rebellischen Slogan von 2001 ‘que se vayan todos’ (‘Sie sollen alle gehen’) wurden als infantil, dickköpfig verhöhnt, als ein Beispiel für ‘wie böse wir damals waren und wie gut wir heute sind’ – UnterstützerInnen der Regierung zufolge. Und wenn die Opposition es als eine Erinnerung anbringt, baut sie gleichzeitig den Mythos eines glorreichen argentinischen Volkes, das eine Regierung stürzte. Die cacerolazos (‘Topf-und-Pfannen Demos) werden aus ihrem Kontext der Versammlungen, Streikposten und Organisation gerissen. Sie werden ihrem Inhalt beraubt und somit auch ihrem wirklichen Potential, das ‘que se vayan todos’ implizierte.

Ebenfalls, zwei Wochen nach dem 7. Dezember und kurz vor Neujahr haben Plünderungen in verschiedenen Orten im ganzen Land stattgefunden und brachten den Geist von 2001 mit sich. Die Übereinstimmung der Daten ist vielsagend, aber kann kaum unserem Verständnis der Fakten helfen.

Sie sagen dieselben Dinge wie immer: dass das Plündern organisiert wurde, dass es die Arbeit von Infiltratoren oder einmal mehr der Regierung oder der Opposition – in diesem Fall in Form des Syndikalismus – ist. Es wurde alles Mögliche diskutiert, Worte werden nach links und rechts geworfen, aber was vermieden wird – freiwillig oder unfreiwillig – ist, das Problem beim Namen zu nennen: Kapitalismus. Das bedeutet, dass Ermessensspielraum, paternalistische PolitikerInnen wie auch Verzweiflung, Hunger und Frustration durch Bedüfnisse verursacht werden, die die vorherrschende Kultur, korruptes Vorgehen [3], aber auch rechtliche Empörung verschärfen. Die Widersprüche des Kapitalismus explodieren in unseren Gesichtern und niemand will die Verantwortung dafür tragen. Diejenigen, die auf den Kosten der Güter leben, die wir produzieren, und sie dann bewerben, indem sie uns sagen, dass es bedauernswert für uns werden würde, wenn wir ihnen nicht gehorchten, sind dieselben Menschen, die Angst haben, wenn sie die Armen bestehlen.

Der ganze Wirbel um die Meinung á la ‘wie sie es im Fernsehen tun’ erlaubt niemandem, klar darüber zu denken, was passierte; über die Welle von Verlusten, die von einer Welle der Plünderungen hinterlassen wurden. Diese Toten wurden verursacht, weil das herrschende System einem Menschenleben weniger Wert zumisst als einem LCD Flachbildfernseher, einer Kiste Cider oder einem Packet Nudeln – wenn es also nichts mehr oder weniger nicht wert sein sollte, weil ein Menschenleben nie mit dem eines Objektes verglichen werden darf.

Es könnte sein, dass Plündern nicht weniger als ein Akt der Verzweiflung ist von jenen, die mit den materiellen Lebensbedingungen konfrontiert sind, die zu Weihnachten oder Neujahr aufkommen, wenn der allgemeine Wahnsinn und die Entfremdungen im Verhältnis zum Sperrfeuer der Werbung, der Sommerhitze, dem Geld, das bei weitem nicht ausreicht, und der Sicherheit steigen, sodass ein weiteres Jahr vorübergegangen ist, während du dich in die Routine von Arbeit oder marginalisiertem Leben eingelebt hast.

Was das Plündern aussagte, ist, dass trotz eines jahrzehntelangen Zirkus von Progressivismus und Menschenrechte die Strukturen der Ausbeutung intakt bleiben. Das Plündern brachte einmal mehr jene, die wirklich leiden, ins Rampenlicht, indem sie den langweiligen bourgeoisen ‘Kirchner oder Anti-Kirchner’ Disput aufkündigen. Es existieren Armut, Überbevölkerung, Drogen und sie sind unzertrennlich von einer gesellschaftlichen Zersetzung, in der es dasselbe ist, einen Supermark auszurauben oder den Nachbarn, den Ausbeuter oder den Ausgebeuteten. Aber selbst das kann uns nicht dazu bringen, in den Chor der empörten Stimmen einzustimmen und uns Richtung Himmel zu beklagen über die Events, die ein paar Mal im Jahr passieren, aber trotz der Plünderung des Planeten jeden Monat ruhig gehalten werden; die ruhig gehalten werden an jedem Tag des Jahres trotz der Plünderung unserer Leben.

Es scheint leicht zu sein, die Plünderer als Sündenböcke einer dekadenten Gesellschaft anzusehen. Und wir hören ja auch immer dasselbe ‘Argument’: Wenn sie hungrig sein würden, würden sie keine Fernseher stehlen. Vielleicht arbeiten jene, die diese billige Kritik formulieren, um sich nichts anderes als Brot und Nudeln zu kaufen? Wenn wir genau sein würden, riskieren sowohl diejenigen, die Fernseher kaufen als auch jene, die Fernseher stehlen ihre Gesundheit und ihre Leben – ob die Bedrohung eine schnelle Kugel von Cops ist oder der langsame Verfall, dieses gewohnheitliche Leben, das auf den Körper schlägt; keiner von beiden interessiert sich dafür, ob ihre Fernseher von einer/m Arbeiter/in mit Krankenversichtung oder einem Jugendlichen in Ketten zusammengebaut wurde. Und wenn sie sie einmal haben, sehen sie dieselben elf Schwachsinningen einen Ball hinterherlaufen oder dieselben implantierten Brüste… Demzufolge ist es nur ein kleines Detail, ob du ein Schaufenster einwirfst, um zu plündern, oder dein Portemonaie öffnest, um zu zahlen. Die Empörung, dieser ‘Horror’ kommt von jenen, die von der bourgeoisen Moral des Opferns erfüllt sind, und bis zum Abwinken Fahnen schwenken und nie müde werden über die ‘negros de mierda‘ (verdammten Schwarzen) zu reden, während sie sich ihren Lippen ablecken und darüber nachdenken, gestohlene Fernsehen zu Schnäppchenpreisen in dem nächsten Slum zu kaufen.

Diejenigen, die Empörung über diese Handlungen zeigen und nicht über die täglichen Ungerechtigkeit, haben von vornherein einen Hass auf die Armen. Einmal mehr sind die ‘Argumente’ etwas Besonderes, mit denen ihre gewählte Identität ausgefüllt wird, die den Mächtigen nur allzu gut in den Kram passt.

Im Fall von Bariloche [4] ist die Gesellschaft buchstäblich gespalten: Bajo ist reich, Touristen-fokussiert und vergleichbar mit der Schweiz aussehend, während Alto der Ort ist, wo jedeR villero [5], ArbeiterIn, Mapuche, BolivianerIn und ‘chilote’ [6] gefunden werden können. Vor zwei Jahren, als ‘die Schwarzen’ auf die Straße gingen wegen des Mordes an den 15-jährigen Diego Bonnefoi durch einen schusswütigen Cop im Juni 2010, unterdrückte sie die Polizei und hinterließ zwei weitere Tote – Sklaven, die Essen in einem teuren Hotel von Bajo zubereiteten. Einmal mehr kommen die ‘barbarischen Horden’, die in prekären Verhältnissen leben und bei Temperaturen um den Gefrierpunkt ohne Heizung überleben müssen, raus nach Bajo. Ihnen wurde von Miguel Pichetto, Senator von der Frente para la Victoria [7] in Rio Negro, vergeworfen, eine ‘Hardliner-Gruppe [zu sein], die aus der extremen Linken stammt mit anarchistischem Glauben und delinquenten Tendenzen.’ Gleichzeitig verkündete der Vize-Verteidigungsminister Sergio Berni in Buenos Aires, dass ‘es eine Franktion gibt, die das Chaos liebt und Argentinien mit Blut währen dieser Festlichkeiten beschmutzen will.’ Das Establishment, die – vertreten durch die Regierungspartei – automatisch wiederholen, dass es Proteste nicht unterdrückt, zögerte nicht 400 GrenzsoldatInnen mit Waffen und Tränengas zu schicken. Was für eine verdrehte Rhetoric müssen sie in der ‘6, 7, 8’ [8] benutzt haben?

Die möglichen Lösungen, die in dieses Meer von Meinungen geworfen werden, sind es ebenso wert, erwähnt zu werden. Sie reduzieren das Problem zu einem von schlechter Verwaltung, indem sie die Schuld allein auf ‘die Kirchners’ oder ‘die Sozialisten’ schieben. Sie rufen danach, ‘Demokratie zu demokratisieren’, als wenn dies keine Demokratie wäre und als wenn Demokratie keine kriminelle Ordnung wäre. Dann kommen die verschiedenen Euphemismen, all die Wege, um zu sagen, dass es notwendig ist, die Armen zu disziplinieren. In diesem Punkt sind sich die Linke und die Rechte einig: Unmenschliche Schulen, die wie Gefängnisse aussehen, wetteifernder Sport, Kunst als Entfremdung von Kreativität. Sie füllen ihre Münder mit Worten über die Armen, aber in Wirklichkeit wollen sie diese normalisieren, befehlen und ihre demokratischen Pflichten in Ruhe verrichten. JedeR hat seinen/ihren Platz: Jene, die Cash oder in Raten zahlen, mit den Armen als eine abgeschlagene Erinnerung, dass es immer noch schlechter werden kann.

Empörung ist es nicht, jeden Tag für das Kapital zu arbeiten, nach Arbeit zu suchen oder nach Geld zu betteln. Normalität, die Morde, die Verhaftungen aufgrund des Privateigentumssystems müssen Empörung zur Folge haben. Das ‘Plünderungsproblem’ ist, dass wir immer noch auf das große Plündern warten, in dem wir unsere Leben zurückgewinnen.

Anmerkungen zur Übersetzung:

Als dieser Text geschrieben wurden, wurden alle Personen, die nach den Events im Dezember 2012 festgenommen wurden, ebenso wie die solidarischen Menschen, die mitgenommen wurden (unter ihnen drei anarchistische GenossInnen), wieder freigelassen.

[1] Ein Massenprotest, der am 8. November 2012 gegen die fortgesetzte Regierung von Cristina Fernández de Kirchner stattfand.

[2] Das Audiovisuelle Kommunikationsservice-Gesetz, das von der Kirchner-Verwaltung 2009 durchgesetzt wurde und die Kontrolle der Regierung über die Rundfunk-Medien ausweitet, war zumindest teilweise eine Antwort auf die intensive Kritik der Medien gegen die Regierung, die zuvorderst aber von politischen Oppositionsparteien kam. Das Gesetz verlangt eine Medienzusammenführung, um Teile ihres eigenen Eigentums zu verkaufen oder zu überlassen. Medienkonglomerate, insbesondere die Clarín Mediengruppe, reichten eine einstweilige Verfügung gegen das Gesetz ein, die bis zum Obersten Gericht ging, das den 7. Dezember entschieden wurde als Datum festlegte, an dem das Berufungsgericht ihre endgültige Entscheidung geben wird. Das Berufungsgericht verschob die Entscheidung jedoch und verlängerte so die Spannung zwischen der Regierung und den multinationalen Medien.

[3] In dem originalen punteros políticos – ein argentinischer Name für caudillos – vor Ort VertrterInnen der Staatsmacht, die lokale Organisationen vereinnahmen und paternalistischen Profit verteilen.

[4] Eine Stadt in einem Skigebiet, die Schauplatz von einem der wildesten Aufständen und der härtesten Repression Ende 2012 war.

[5] Jemand, der/die in einem Slum wohnt; wird auch als eine Beleidigung gegen eine Person genutzt als ein Synonym von ekelhaft.

[6] Ein rassistischer Begriff für Menschen mit chilenischer Abstammung, die in Argentinien leben; der Name kommt von den EinwohnerInnen der Inseln Chiloé, die  an der chilenischen Küste gelegen sind.

[7] „Front für den Sieg“, eine linke, peronistische Partei.

[8] Ein staatlicher FernsehSender für politische Diskussion, der 2009 gegründet wurde, um den vermeintlich voreingenommenen Mediennetzwerke gegen die Kirchner-Regierung entgegen zu wirken und die jorunalistische Pflichteleere zu propagandieren.

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