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Grenzenlos nr. 3, anarchistische Zeitschrift

Vor Kurzem ist die 3. Ausgabe der anarchistischen Zeitschrift “Grenzenlos” erschienen. Nachfolgend das Editorial und das Inhaltsverzeichnis der aktuellen Ausgabe. Die Zeitschrift kann per Mail über “grenzenlos-zeitschrift [at] riseup [.] net” oder per Post über “Grenzenlos c/o Anarchistische Bibliothek FERMENTO, Rosengartenstr. 10, 8037 Zürich” bestellt werden.

„Grenzenlos“, Anarchistische Zeitschrift, Ausgabe Nr. 3, Zürich, Oktober 2014
Format: 76 Seiten, A4

EDITORIAL

Doch noch eine dritte Ausgabe der Grenzenlos. Es hat lange gedauert. Die Gründe dafür sind viele. Sicherlich nicht die Untätigkeit. Einer der Hauptgründe war vielmehr die Unentschlossenheit über Form und Funktion, die diese Zeitschrift annehmen soll. Der Spagat zwischen Revue und Agitationszeitung, der Versuch, einerseits eine theoretische Vertiefung der hiesigen und internationalen Debatten unter Anarchisten und andererseits aktuelle Dokumente und Informationen zu spezifischen Kämpfen sowie der sozialen Konfliktualität im Allgemeinen zusammenzutragen, zeigte sich immer schwieriger in einer einzigen Zeitschrift tragbar. Es drängte sich eine Entscheidung auf. Wie bereits in der ersten Ausgabe angemerkt, « wird diese Zeitschrift in Form, Umfang und Schwerpunkten variieren und sich ihren Platz fortwährend suchen ». Aber in welche Richtung? Bereits in der letzten Ausgabe zeigte sich die Tendenz, den Anspruch einer Dokumentation der Kämpfe und Konflikte, in ihren chronologischen Begebenheiten, zu vernachlässigen, um mehr den theoretischen Vertiefungen Platz zu geben, die daran gebunden sind. Nicht nur, weil die mangelnde Periodizität und somit Aktualität von dieser Zeitschrift den Sinn einer solchen informativen Arbeit, offensichtlicherweise, fraglich macht, sondern auch, weil wir der Ansicht sind, dass die Erfordernis, die wir um uns spüren, um voranzukommen, eine andere ist. Nicht schlicht die Information. Im Gegenteil, die Übersättigung mit Informationen, meistens knapp, verzerrt und abgeflacht, mit geringer inhaltlicher Auseinandersetzung und Kontextualisierung, wie sie in unserem Zeitalter durch die allgegenwärtigen Kommunikationstechnologien besorgt wird, trägt oft eher dazu bei, jenen grundlegenden Punkt zu überschütten, von dem es auszugehen gilt: dass es keinen äusseren Mechanismus gibt, der an unserer Stelle wirkt, den es bloss zu verfolgen und abzuwarten gilt, dass wir es sind, die ein Projekt aufbauen müssen, ohne uns in der Virtualität der Informationen oder im Rausch des Tuns zu verlieren, dass wir es sind, die eine Brücke zwischen der uns umgebenden Realität und der freiheitlichen Zukunft aufbauen müssen, die wir uns wünschen. Und dazu reicht keine blosse Informiertheit über Ereignisse und Begebenheiten, sondern brauchen wir Ideen und Analysen. Ideen, welche die Methodologie bestimmen, wie wir, als Anarchisten, in die Realität des sozialen Konfliktes intervenieren, und die nicht blosse Intuitionen bleiben können, sondern ein Fundament brauchen, um darauf bauen zu können, um sie auch einer gewissen Belastung unterstellen zu können. Analysen, die es uns erlauben, die Realität besser zu verstehen, die Bewegungen und Entwicklungen des Feindes (des Staates, des Kapitals, ihrer repressiven, produktiven und konsensbeschaffenden Strukturen) zu erkennen, und die sozialen Spannungen ausfindig zu machen, um, unsererseits, die Initiative zu ergreifen und anzugreifen. Und in diese Richtung gibt es, mit Sicherheit, noch viel Arbeit zu tun. Die verschiedenen internationalistischen Initiativen, die in den letzten Jahren aufkamen, können dazu, unserer Ansicht nach, sehr hilfreich sein.

Projektualität

Wenn in dem vergangenen Jahr, hier in Zürich, Vorträge und Diskussionen über die Ideen und Aktionen von Anarchisten wie Severino Di Giovanni, Francisco Sabaté und Albert Libertad gehalten wurden, so war das, scheinbar, weil es in diesen Anarchisten, wie in vielen anderen, etwas gibt, das sie gemeinsam haben, etwas, das unser Interesse weckt.

Severino Di Giovanni, ein ungestümer Mann der Aktion, Autor zahlreicher Enteignungen von Kapitalisten und Anschläge gegen die Verantwortlichen der Unterdrückung, aber auch einer anarchistischen Zeitung, “Culmine”, die er herausgab, worin er seine Ideen ausdrückte und Analysen des südamerikanischen Kontexts entwickelte, in dem er mit seinen Gefährten agierte, stets auf der Suche nach den Punkten, worauf es zu pressen gilt, um die Ausgebeuteten zu einem generalisierten Aufstand anzutreiben, ein Mann von ebenso grossem Durst nach Aktion wie nach Bildung, selbst bereit, seine Freiheit zu riskieren, um, obwohl er überall gesucht wurde, persönlich die Matrizen für ein Buch von Éliée Reclus abzuholen, das er mit seinem Verlag zu drucken beabsichtigte, was schliesslich zu seiner Verhaftung führte.

Dann Francisco Sabaté, ein unermüdlicher Rebell, von den Aufständen von 1933 gegen die Spanische Republik, durch den Verlauf des Bürgerkrieges, bis hinein ins Franco-Regime, wogegen er ununterbrochen weiterkämpfte, während er mit Aktionen wie aus einem Taxi über den Paraden abgeschossenen Flugblättern genauso wie mit bewaffneten Angriffen versuchte, die Leute zur Auflehnung zu ermutigen, jemand, der mit seinen Enteignungen der anarchistischen Bewegung einen beträchtlichen Anteil an finanziellen Mitteln verschaffte, ungeachtet der Missachtung und des Argwohns, den die Führer der vorherrschenden anarchistischen Organisation, der CNT, für ihn übrig hatten, da seine Aktionen, die keine Kompromisse akzeptierten, ihrem opportunistischen Paktieren im Wege standen.

Und schliesslich Albert Libertad, ein feuriger Agitator, der kein Blatt vor den Mund nahm und mit seinen Ideen in Versammlungen aller Art intervenierte, Herausgeber der anarchistischen Wochenzeitung “L’Anarchie”, mit einem journalistischen und literarischen Talent, das sich in der Geschichte der anarchistischen Propaganda kaum zweimal finden lässt, Initiator der “Causeries Populaires”, öffentliche Debattieranlässe, die sich im Paris des anbrechenden 19. Jahrhunderts rasch weiterverbreiteten und rege Beteiligung fanden, und gleichzeitig ein Förderer der Revolte, der Dringlichkeit des Angriffs, der, trotz seiner Krücken, nicht zögerte, mit seinen Gefährten einem Streik der Arbeiter bewaffnet zur Seite zu stehen, als dieser begann, aufständische Charakteristiken anzunehmen.

Nun, was ist es also, was diese Menschen, so unterschiedlich in ihrer persönlichen, sozialen und zeitlichen Realität, miteinander gemeinsam haben? Eine ununterbrochene Wechselwirkung zwischen Gedanken und Aktion, Theorie und Praxis, der Entwicklung und Vertiefung von Ideen und Analysen und der praktischen Realisierungen von Kampfprojekten und Angriffen. Kurz: eine revolutionäre Totalität, die alles miteinschliesst, und die einheitlich darauf ausgerichtet ist, ausgehend von wo auch immer man sich befindet, zur Kreierung jener aufständischen Bewegungen beizutragen, die der unumgängliche Weg zur Anarchie sind. Ihre Tätigkeiten, von den gedruckten Schriften bis zu den bewaffneten Aktionen, von der theoretischen Ausarbeitung bis zur Beschaffung von Mitteln, geschahen nicht als separate Tatsachen, sondern als Bausteine ihrer eigenen revolutionären Projektualität.

Eben dieser Sinn für eine revolutionäre Projektualität ist etwas, das heute oft selten geworden ist, und das wir unbedingt zurückerlangen müssen, wenn wir nicht in der Folklore der Geschichte verschwinden wollen. Wenn wir eine treibende Kraft in den gegenwärtigen und kommenden Konflikten sein wollen.

Aber die Bedingungen um uns herum haben sich verändert seit der Zeit von Di Giovanni, Sabaté und Libertad, und zwar grundsätzlich. Auch wenn die Methoden, wie wir als Anarchisten kämpfen wollen, dieselben bleiben, so werden die revolutionären Strategien heute anders aussehen müssen. Es ist deshalb unentbehrlich, unsere Bedingungen und die tiefgreifenden Veränderungen, die erfolgt sind, zu analysieren.

Ideen und Mittel

Um überhaupt so etwas wie eine Projektualität entwickeln zu können, brauchen wir also grundsätzlich zwei Dinge: Ideen und Mittel. Wenn wir die anarchistische Bewegung von heute mit jener zur Zeit der obengenannten Gefährten vergleichen, ist der Verlust an kulturellen und praktischen Grundlagen unübersehbar. Korrespondenzen, Zeitungen und Bücher sind selten geworden, viel technisches Wissen ist abhanden gekommen. Analysen sind oft inhaltsarm, Angriffe oft platonisch. Eine Tendenz, die nicht losgelöst von den Veränderungen betrachtet werden kann, die auf gesellschaftlicher Ebene erfolgt sind. In diesem Sinne ist es “normal”, dass sich die allgemeine kulturelle und sprachliche Verarmung, die Entwicklung einer flexiblen, demokratischen Mentalität und die Produktion von sozialem Frieden auch in der anarchistischen Bewegung widerspiegeln. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass wir eben dieser Tendenz entgegenwirken müssen, wenn wir aus unserer selbstgemachten Marginalisierung ausbrechen wollen. Dass wir uns anstrengen müssen, diese kulturellen und praktischen Grundlagen so weit es geht zurückzuerobern, als Waffen im Kampf gegen die Macht, deren man uns berauben will. Ansonsten könnten wir schneller, als wir es erwarten, von Ereignissen überrollt werden, die uns verständnislos und entwaffnet dastehen sehen…

INHALTSVERZEICHNIS

– Editorial
– Zur Analyse der Situation in der Schweiz
– Revolutionäre Perspektiven
– Ansatzpunkte für einen Diskussionszyklus
– Sitzen wir alle im selben Boot?
– PJZ Niemals!
– Die revolutionäre Frage
– Der Bau des PJZ kann verhindert werden
– Gefangene der Geschichte
– Vortrag
– Notizen zum Kampf gegen das PJZ

– Insurrektionismus oder Evolutionismus?
– Historische Entwicklung des anarchistischen Insurrektionalismus
– Neue Wenden des Kapitalismus
– Ein spezifischer Organisationsvorschlag
– Organisationsdokument der selbstverwalteten Ligen
– Ein Massenembryo
– Selbstverwaltung als anarchistische Kampfmethode
– Kurze Klarstellung über unsere Weise, den aufständischen Kampf anzugehen

Internationales anarchistisches Treffen in Zürich vom November 2012

– Neue Realitäten, alte Verlangen
– Über die Kommunikation
– Etwas, das fehlt
– Barbarenbeitrag
– Einige Schritte auf dem Terrain der Informalität

– Redebeiträge am Treffen von Velletri
– Das Unvorhergesehene
– Ja, der Reichstag brennt
– Buchrezension: Über den Terrorismus und den Staat
– Wenn das Vorurteil zur Gewissheit wird
– Vierzig

Helsinki, Finnland: Silvester-Solidaritätsdemonstration zum Metsälä-Knast

socialIn der Neujahrsnacht besuchte eine 40-köpfige Gruppe die Metsälä-Haftanstalt in Helsinki. Wir wollten die Migrant_innen, eingesperrt aufgrund ihrer Herkunft, wissen lassen, dass wir sie inmitten der Feierlichkeiten zu Silvester nicht vergessen haben.

Wir sendeten mittels Rufe der Ermutigung, Trommeln, Raketen und einem Banner auf welchem steht: „No Borders – Solidarity with prisoners!“ Grüße über den Zaun. Um unsere Botschaft zu hören, gelang es den Gefangenen, in einen Käfig, welcher eine Art Balkon darstellt, zu eilen, doch nach einer Weile zwangen sie die Wärter der Haftanstalt zurück ins Innere. Danach machten wir weiterhin Lärm unter ihren Fenstern.

Bullen stießen an einer lokalen Bahnstation zur Demonstration hinzu und folgten unserer Route durch Seitenstraßen zum Gefängnis. Dort erwartete uns Polizei in Kampfausrüstung, ihre Hunde folternd, indem sie sie zwangen, bei den Polizeieinheiten, den Raketen und dem Lärm zu bleiben. Doch sie schafften es nicht, den Zugang zum Zaun, welcher das Gefängnis umgibt, zu blockieren. Von Anfang an verhielten sich die Bullen aggressiv, drohten uns mit Gewalt, Hunden und Pfefferspray und stießen Leute zu Boden. Als die Zeit kam, sich vom Zaun zurückzuziehen, griffen die Bullen die Menge an und es gelang ihnen, zwei Protestierende mit sich zu nehmen, während es zwei weiteren gelang, sich der Festnahme zu entziehen. Die festgenommenen Protestierenden wurden am nächsten Tag freigelassen.

Die Haftanstalt ist eine geschlossene Einrichtung für bis zu 40 Migrant_innen, Personen, welche von der Polizei oder der Grenzpatrouillen nach dem finnischen Ausländergesetz festgehalten werden – nicht aufgrund irgendeines Vergehens.

Die Inhaftierung dauert in der Regel mehrere Wochen, im schlimmsten Fall bis zu sechs Monate oder länger. Das Metsälä-Gefängnis gegen Migrant_innen ist zur Zeit das einzige seiner Art in Finnland und es ist konstant gefüllt mit „Kunden“, von Kindern bis zu Erwachsenen. Üblicherweise warten die im Metsälä-Gefängnis inhaftierten Migrant_innen darauf, von der Polizei in Kooperation mit den Einwanderungsbehörden und bspw. den Fluggesellschaften abgeschoben zu werden.

Indem wir unsere Solidarität zeigen, kritisieren wir auch die Nationalstaaten und ihre Grenzpolitiken, welche Rassismus und ökonomische Ungleichheit generieren. Durch die Zerstörung der Bewegungsfreiheit erlauben Grenzen die Ausbeutung durch billige Arbeit und treiben Menschen in den Wettbewerb gegen einander. Die Grenzen sind ein Menschen mordendes Geschäft, wie uns der „Vorfall“ von Lampedusa am 3. Oktober 2013 gezeigt hat, als 363 Migrant_innen an der Küste Italiens, an der Grenze der Europäischen Union, ertranken.

Dieses tödliche Geschäft hört nicht an den nationalen Grenzen auf: Es durchzieht die Sicherheitspolitik mit dem Ziel, alles und jeden im Namen der Sicherheitsgefährdung zu beobachten, identifizieren und regieren.

Solidarität mit den inhaftierten Migrant_innen!

Wir werden angreifen
die Gründe unserer Sorgen
die Grenzen
wird es nicht mehr geben morgen!

Quelle