Warschau – Die letzten Tage, die den nationalistischen Krawallen des 11. November 2012 folgten, waren für diejenigen unter uns, die in Polen leben aber auch für unsere zuschauenden FreundInnen rund um die Welt, eine Zeit der ernsthaften Reflektion. Wir sind in einer neuen Realität aufgewacht, nicht im übertriebenen oder theoretischen Sinne, sondern in einer konkreten, neuen Realität des faschistischen Terrors auf den Straßen unserer Städte mit ausgebrannten Wohnungen, im Krankenhaus liegenden AntifaschistInnen, Morden, nationalistischen Massenaufmärschen durch unsere Städte und nun der Formierung von nationalistischen Milizen sowie einem Aufruf zum Umsturz der Republik. Wir fragen uns, genauso wie unsere Großeltern es vor 80 Jahren taten, “wie konnte das in unserer Zeit passieren?”
Historischer Zusammenhang
Der Sturz der “kommunistischen” Diktaturen in den 1990’ern bot neuen politischen Ideologien in den ehemaligen Einparteienstaaten einen Nährboden zum Erstarken. Wo einst die Geschichte durch die stalinistische Propaganda an die Menschen vermittelt wurde, kehrte der Krieg über die historische Wahrheit zurück und die NationalistInnen tun alles in ihrer Macht stehende, um die Geschichte zu ihrem düsteren Vorteil zu verfälschen. Überall im vergessenen Teil Europas beobachten wir heute diese Tendenz. In Dresden organisieren die NationalistInnen Aufmärsche, um der Opfer der Bombenangriffe durch die Alliierten zu gedenken; in Ungarn werden NationalistInnen aus der Vorkriegszeit (und Verbündete der Nazis) als die wahren Verteidiger der Freiheit glorifiziert; in der Ukraine werden Monumente für die terroristische Organisation UPA errichtet, ihren Anführern wird der Status des ‘Nationalhelden’ zugesprochen. Wir leben in extrem unsicheren Zeiten. Die Schwarzweißmalerei, die NationalistInnen anbieten, stößt bei einer Generation, die unter den Gegebenheiten der modernen Ökonomie leidet, auf Resonanz.
In Polen verbrachten die NationalistInnen die letzten 20 Jahre damit, Fußballfans zu rekrutieren, bestrebt, die Kultur und Identität der Arbeiterklasse zu übernehmen. Diese Taktik beobachten wir überall in Europa. Die BBC-Dokumentation, die sich kritisch mit der faschistischen Gewalt innerhalb des polnischen und ukrainischen Fußballs auseinandersetzte, schockierte diejenigen außerhalb dieser Region, die überlegten, einen Urlaubsausflug zu den EURO 2012 Meisterschaften zu machen. Aber nationalistische Kultur und Ideen lassen sich nicht länger nur im Umkreis der Fußballstadien finden, sie dringen immer weiter in den Alltag, die Massenmedien, die Kirchenpredigten und sogar auf den Universitätskampus vor.
Die radikalen NationalistInnen haben ihre Militäruniformen und Fußballklubpolitik zu Gunsten von Anzügen und Krawatten, sowie dem Bündnisaufbau eingetauscht. Durch die Etablierung von Allianzen quer durch die Rechte, was auch Großverlage mit einschließt, brachten sie die 11. November Aufmärsche von 300 Neonazi-Skinheads im Jahr 2009 auf 20.000 “PatriotInnen” im Jahr 2012, bereit “das System umzustürzen”. Aber wir reden hier nicht nur von Propaganda und Aufmärschen, wir stehen auch einer neuen Ära der organisierten und koordinierten Gewalt gegenüber, die es so jahrelang nicht zu sehen gab. Sie fahren eine zweigleisige Strategie, wobei sie einerseits das öffentliche Bild von der extremen Politik säubern (sie bemächtigen sich des Märchens vom ewigen Opfer “wahrer PatriotInnen”, die von einem unterdrückerischen System verdammt werden), während sie gleichzeitig ganz kurz unter der Oberfläche ihrer Organisierung eine Kultur der Gewalt erschaffen. Ihre Strategie erreichte diesen 11. November ihren Höhepunkt.
Mit Entsetzen standen wir da, als nationalistische Gruppen polnische Städte terrorisierten und Straßenkämpfe, die den Hauptaufmarsch begleiteten, von den NationalistInnen und ihrer Masse konspirierender SympathisantInnen als “provoziert durch verdeckte Ermittler” abgetan wurden. Die total inkompetenten polnischen Medien begannen die Behauptungen der ONR zu wiederholen, von der langen, bemitleidenswerten “nationalen Aufopferung”, die nun der Hauptmythos des 11. November zu sein scheinen. Die Mär des vergangenen Jahres von den “ausländischen Antifaschisten, die kommen, um polnische Patrioten zu bekämpfen und Warschau zu demolieren,” wurde ersetzt durch eine neue paranoide Theorie von “verdeckten Ermittlern mit Skimasken, die Krawalle in Warschau verursachen”. Die Realität hat die Masse der Gesellschaft noch zu erkennen, polnisch-nationalistische Gewalt erreicht ihren Höhepunkt und polnische AntifaschistInnen, ImmigrantInnen und LGBT’s erleben es aus erster Hand.
Eine kurze Zusammenfassung der koordinierten nationalistischen Gewalt im Jahr 2012
Die Welle der Gewalt trat nicht erst kürzlich in Erscheinung, in den vergangenen Jahren sahen wir einen Mord und dutzende, wenn nicht hunderte Angriffe im ganzen Land. Die Osternacht in Białystok: Eine Gruppe NationalistInnen grölt, sie würden “die Stadt von Linken und Schwuchteln säubern”, ermordeten einen Studenten und stachen auf mehrere andere ein. Stundenlang durch die Straßen ziehend, versagte die Polizei dabei einzugreifen. In Poznań wurde ein Kinderkunstfestival, veranstaltet vom Rozbrat Squat, von gruppenweise Männern mit Steinen angegriffen. In Opole wird ein kleines kurdisches Restaurant von Schlägern mit Knüppeln und Messern angegriffen. Die Polizei ignoriert mehrfach Anzeigen der ArbeiterInnen über nationalistische Drohungen. In Piła werden zwei Jugendliche von fünf Männern, die sie als “dreckige Schwuchteln” bezeichnen, zusammengeschlagen, weil sie Plakate für ein Punkkonzert aufhängen. In Warschau kommt es im Anschluss auf Solidaritätsdemonstrationen von ArbeiterInnen wiederholt zu Übergriffen auf örtliche GewerkschafterInnen; Übergriffen auf die LGBT-freundliche Bar “Schöne neue Welt”, während nationalistischen Aufmärschen; Drohungen gegen linke AktivistInnen im Anschluss auf öffentliche Demonstrationen. In Lublin kommt es zu einem Übergriff auf das Kulturzentrum Tektura Kollektiv und Wochen später gegen “Free Tibet”-DemonstrantInnen auf dem Platz der Stadt. In Sopot wird ein junger Mann, der auf seinen Zug Nachhause wartete, angegriffen, weil er “bunte Hosen trägt”. Es wird ihm vorgeworfen schwul zu sein, er wird zusammengeschlagen. In Wrocław greift der nationalistische “Aufmarsch der Sturmhauben” eine Demonstration für Gleichberechtigung, das anarchistische Sozialzentrum CRK, die örtliche Synagoge etc. an. Ein kubanisch-polnischer Fußballer wird bedroht, sein Motorrad demoliert und mit den Worten “white Power” und “KKK” beschmiert. Friedhöfe, Synagogen, Denkmäler, multikulturelle Symbole, Cafes, Sozialzentren, besetzte Häuser werden angegriffen, die Liste geht weiter, das alles in den letzten 11 Monaten, in Städten überall im Land. Und dann ist da noch, was am 11. November geschah.
Der 11. November war ein Tag, den die NationalistInnen als einen großen Sieg feiern; der Beginn einer neuen nationalen Front und der Anfang vom Ende der polnischen Republik.
Die nationalistische Machtergreifung und Bildung der Nationalistischen Milizen
„Wir leben jetzt in einer neuen Realität – und kaum ein Mensch scheint es zu bemerken“ erklärte die Antifaschistische Koalition des 11. Novembers. Neben den nationalistischen Krawallen, die Warschau am Abend des 11. Novembers erschütterten, fanden an diesem Tag eine Menge Angriffe statt, um den „nationalen Unabhängigkeitstag“ zu feiern. Die NationalistInnen kündigten eine neue militante Strategie gegen die Demokratie an. ONR (Obóz Narodowo Radykalny, das Radikale Nationale Lager) und Młodzież Wszechpolska (Gesamtpolnische Jugend) MW, die Gruppen, die den Marsch durch Warschau organisierten, haben sich nun offiziell vereinigt und anschließend zum Umsturz der Republik und zur Bildung paramilitärischer Gruppen innerhalb einer so genannten „Nationalgarde“ aufgerufen. Der Aufruf erinnert sehr stark an Hitlers Braunhemden, die in deutschen Städten patrouillierten und in den 1920’ern und 30’ern Widerstandsgruppen zerschlugen. Mussolini hatte eine ähnliche Rückendeckung mit seinen „Schwarzhemden“, die Rom übernahmen, indem sie Straße für Straße durchkämmten und so politische Feinde aufspürten. Das ist die Realität über die wir reden, faschistische Milizen kommen in eine Stadt in deiner Nähe.
Es wird sich zeigen, inwieweit diesem Aufruf von den Braunhemden der ONR und MW Beachtung geschenkt wird, aber wenn der 11. November ein Indiz ist, dann sind sie schon da. Sonntagnacht, direkt nach dem „Patriotenmarsch“, drang eine 100 Mann starke Gruppe gewaltsam in das Sozialzentrum Wagenburg in Wrocław ein. Sie begannen mehrere Menschen bewusstlos zu prügeln und flüchteten anschließend vom Tatort. Ein Mann wurde in Eile ins Krankenhaus gebracht und entkam nur knapp dem Tod. Er befindet sich, nachdem er mehrmals operiert wurde, immer noch in kritischem aber stabilem Zustand. Fahrzeuge, Häuser und das Gebäude selbst wurden beschädigt oder zerstört. Auf Facebook gratulierte der Anführer der NOP (eine weitere große nationalistische Organisation) den Angreifern und spornte zu Weiterem an. Die vier Männer, die infolge des Übergriffs festgenommen wurden, wurden mittlerweile ohne Anklagen entlassen. In Białystok kam es zu einem Brandanschlag auf die Wohnung einer tschetschenischen Familie. Ebenfalls in Białystok verkündete der Bürgermeister jetzt öffentlich, dass er sich für die ONR einsetzen möchte. In Warschau wurden nicht kommerzielle Räume angegriffen, unter ihnen das Lambda. Außerdem kam es im Umkreis der Stadt zu Angriffen auf Einzelpersonen und Massenmedienunternehmen. In Wieluń wurde der Friedhof mit ONR-Graffiti verunstaltet, in Ostrołęka Grabmäler unbekannter russischer Soldaten zerstört. Das sind einige der Angriffe, die uns bis jetzt bekannt sind.
Dies ist eine offenkundige und landesweite Kampagne des Terrors. Und wir sehen, dass neofaschistische Gruppen in Nachbarländern ähnliche Kampagnen organisieren. Einige von denen beteiligten sich am Sonntag an dem Aufmarsch in Warschau, u. a. italienische, spanische, ungarische, schwedische und norwegische NationalistInnen. Erinnern wir uns daran, dass Anders Breivik, der Nationalist, der 2011 Oslo terrorisierte und 77 Menschen tötete, die polnischen Nationalisten als große „Inspiration“ anführte.
Apathische Öffentlichkeit
Mit solch einer Welle der Gewalt und Aufrufen zum Umsturz der Regierung, fragst du dich, wo die polnische Gesellschaft und der Staat bei all dem bleiben? Wie schon oben erwähnt, scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Wie es bereits im vorfaschistischen Italien und Spanien passierte, rüstet der Staat nicht etwa zum Schutz gegen eine faschistische „Revolution“ sondern zur Repression gegen den linken Flügel, AnarchistInnen und antifaschistische Organisationen, die für den wirtschaftlichen Frieden eine weitaus größere Bedrohung darstellen, als jegliche faschistische Machtübernahme es vermag. Außerdem hat sich eine Kultur der Apathie und des Schweigens in der Gesellschaft etabliert, die eher mit Fragen der Armut und Identität als die der Politik kämpft. In einem System, das eine Mehrheitsbevölkerung desillusionierter Armer kreiert, ist es kein Wunder, dass der Staat sie lieber für die Nation kämpfen sieht als für Gerechtigkeit. Als Maßstab, wie wenig die polnische Polizei und Regierung die Vorgänge begreift, dient ihr Vorgehen am 11. November: Die Woche zuvor schikanierten sie AntifaschistInnen, verhörten sie „ob Leute irgendwelche Kämpfe für den 11. November planen?“. Die antifaschistische Demo durchquerte Warschau natürlich ohne einen Hauch von Gewalt, während im Stadtzentrum nationalistische Machtdemonstration Krawalle wüteten. Und dennoch bleibt der Fokus der Polizei gegen antifaschistische AktivistInnen gerichtet.
Und die Medien? Nationalistische und populistische Ideen werden im Mainstreamdiskurs sichtbar, die ONR nutzt die unkritische Herangehensweise der Medien, um ihre Rhetorik zu propagieren. An diesem Unabhängigkeitstag, war sogar der Präsident in einer populistischen Bildeinstellung beim Kranzniederlegen für die nationalistische Ikone Roman Dmowski zu sehen. (Staats)Bürgerliche Organisationen sind nun offen Verbündete von ONR und MW; größtenteils, weil die Medien sie oder ihre extreme Politik mangelhaft überprüfen. Und wie sieht es mit der Presse aus, die in der Kritik eine aktive Rolle einnimmt? Sie werden als kommunistisch, elitär oder jüdisch abgestempelt und durch einen rechten Medienboykott angegriffen – ganz nach dem Motto: „Ich werde nicht lesen, ich werde nicht schauen.”
Dermaßen gedeckt von allen Seiten, scheint die Saison für einen neuen Nationalismus eröffnet zu sein, der einen Sprung vorwärts macht aus der Asche des gescheiterten post-kommunistischen, ökonomischen Experiments. Die NationalistInnen behaupten den „dritten Weg“ zu haben, weder kommunistisch noch kapitalistisch, aber – was sie noch herausfinden werden – ist, dass dieser Weg mit antifaschistischen Blockaden gepflastert sein wird.
Wie lange noch können wir die Bedrohung einer nationalistischen Revolution tolerieren und erstarken lassen? Mit gedeihender nationalistischer Propaganda und cleverer „Koalitionsbildung“, die sich bezahlt macht, kriecht der Schatten des Faschismus kontinuierlich über dieses Land. Wie wir in den letzten beiden Jahren sehen konnten, wird dieser „dritte Weg“ mit Blut getränkt sein. Wir können nicht länger warten. Es ist jetzt oder nie.
In Gedenken an unsere Großeltern, die die Todeslager befreit haben und die faschistische Monstrosität in die Knie gezwungen haben. Lasst uns nie wieder an diesen Ort zurückkehren! Keine Kompromisse im Kampf gegen den modernen Faschismus ¡No pasarán!