In Gaza werden nach einer weiteren Aggression des israelischen Staates die Toten gezählt. Die Belagerung und Erstickung dieses Stücks Land, das der Gazastreifen ist, sind seit langer Zeit vollendete Tatsachen. Die blutigen militärischen Übergriffe sind nur ihre schreckliche Bestätigung.
Die Arroganz, mit welcher die israelische Armee ihre Operationen vor den Kameralinsen der gesamten Weltpresse durchführt, ist frappierend. Doch nach wie vor könnte sie nur diejenigen überraschen, die im naiven Glauben waren, dass Politik und internationale Interessen von moralischen Grundsätzen geleitet würden. Weltpolitik ist ebenso pragmatisch wie opportunistisch.
Die zynische Schlussfolgerung dieser Militäroperation ist, dass es zwei Sieger gebe: Hamas und der israelische Staat. Hamas kann sich selbst brüsten einfach deswegen, weil sie nach einer weiteren Aggression durch eine der imposantesten Militärmächte der Welt überhaupt noch existiert. Und mehr noch deswegen, weil diese Militärmacht den Gazastreifen nicht komplett unter Besatzung hält – nach der Hamas unzweifelhaft eine Konsequenz ihres “Widerstands”; ein Widerstand, der hauptsächlich aus dem Abschuss von Raketen in Richtung israelischen Gebietes besteht, die völlig zufällige Ziele treffen (und in den allermeisten Fällen überhaupt nichts). Die Machtposition der Hamas ist kaum erschüttert worden – denn wer sonst könnte behaupten, in der Lage zu sein, die Bewohner des Gazastreifens vor der totalen Auslöschung zu schützen?
Der israelische Staat hat wieder einmal die Notwendigkeit einer Operation durch die Operation selbst legitimiert. Dutzende von Tunneln, die seiner Kontrolle entgingen, wurden zerstört, “terroristische Stützpunkte”, die direkt seine Sicherheit bedrohen, wurden vom Antlitz der Erde gewischt. Welcher gehorsame Bürger könnte denn da noch die Notwendigkeit dieser Operation in Frage stellen? Inzwischen dominiert die Rhetorik von Krieg und Militarisierung die israelische Gesellschaft. Die wirklichen Widersprüche in dieser Gesellschaft (rassistische Diskriminierung und Klassenkonflikte) werden mithilfe der “Bedrohung durch einen gemeinsamen Feind” zugedeckt. Und je mehr Brutalitäten der israelische Staat im Namen der israelischen Bevölkerung verübt, desto abhängiger wird diese Bevölkerung von eben diesem Staat, damit er sie vor möglichen Racheversuchen beschützt. Je weniger Menschen mit israelischem Pass in der Tasche gegen den Terror des israelischen Staates Widerstand leisten, desto positiver werden willkürliche Racheakte wahrgenommen.
Der Mythos der “Zwei-Staaten-Lösung”
Die palästinensische Flagge mag gleichwohl überall zum Zeichen des Widerstands gegen die israelische Kolonialisierung geschwenkt werden, dennoch kommt die Existenz der Palästinensischen Autonomiebehörde hauptsächlich dem israelischen Staat zugute. Der Gazastreifen, in dem offiziell keine israelischen Siedler mehr leben (seit Sharon sie alle 2005 zwang, den Gazastreifen zu verlassen), ist unter der totalen Kontrolle des israelischen Staates. Die Bewohner von Gaza sind für ihr tägliches Überleben vollkommen abhängig von den Machtspielen zwischen Hamas und dem israelischen Staat. Im Westjordanland wird der Bewegungsraum mehr und mehr durch die israelische Armee (oft auch mit der Kollaboration der Palästinensischen Autonomiebehörde) und die Siedler eingeschränkt. Wirtschaftliches Überleben hängt weitgehend vom “Nachbarland” ab. Die israelische Armee kann zum “Schutz der Sicherheit und Integrität ihres Territoriums und ihrer Bevölkerung” tun was sie will, ohne je irgendwelche Verantwortung für das Schicksal der Bewohner palästinensischer Gebiete tragen zu müssen (zumindest nicht für die, welche keine Siedler sind). Ein palästinensischer Staat, der den täglichen Demütigungen seiner Bürger Einhalt gebieten würde, ist nichts weiter als eine Illusion. In Wirklichkeit trägt die Palästinensische Autonomiebehörde, dieser Embryo eines zukünftigen Staates, zur Unterdrückung der Bevölkerung bei, auf ihre eigene Initiative hin oder auf Anweisung des israelischen Staates. Die “Zwei-Staaten-Lösung” ist demnach nicht nur eine Sackgasse, sie kommt auch nur dem israelischen Staat zugute, ohne dass sich jemand dessen bewusst ist.
Und ja, heute gibt es Stimmen in Israel, die für mehr Schritte in Richtung volle Anerkennung eines palästinensischen Staates plädieren. Diese Stimmen fürchten sich vor einer Implosion der Palästinensischen Autonomiebehörde, die den israelischen Staat dazu verpflichten würde, alle BewohnerInnen der palästinensischen Gebiete als israelische Bürger anzuerkennen. Und das würde die Aufrechterhaltung und Legitimierung des Apartheidsystems erschweren. Kurz: eine Implosion der Palästinensischen Autonomiebehörde würde dem zionistischen Projekt eines Israel als eines “jüdischen Staates” schaden.
Selbst wenn das Szenario der zwei Staaten Realität würde, bedeutete dies keinesfalls einen Schritt auf der Straße hin zu einer “gerechten Gesellschaft” für die gesamte Bevölkerung. Ohne Zweifel würde dieser neue Staat andere Wege finden, die rassistische und sektiererische Abgrenzung unter seinen Staatsbürgern zu nähren und auszubeuten. Die militärische Besatzung und die täglichen Demütigungen würden nur ihr Gesicht ändern.
Zwei Staaten oder ein Staat, keine dieser Perspektiven sind Mittel der Emanzipation für die Einwohnerinnen und Einwohner der israelischen und palästinensischen Gebiete.
Die leere Rhetorik des Widerstands
Die Verteidigung der “palästinensischen Sache” wurde oft innenpolitisch von allen möglichen Führern “anti-imperialistischer” Regime (mit pan-arabischen, sozialistischen oder islamistischen Diskursen) angeführt. Wenn diese Regime wie die syrische Diktatur unter Assad oder das theokratische Regime Irans, die palästinensischen Widerstandsorganisationen unterstützten, taten sie dies nicht, um den Kampf für Freiheit zu fördern, sondern um die palästinensische Revolte zu dominieren und zu kanalisieren, welche so viele Kämpfe an anderen Orten inspiriert und immer das Risiko für genau solche Kämpfe in den “unterstützenden” Regimes in sich trägt. Heute ist es klar, dass egal wie schwierig es auch sein mag, es absolut notwendig ist, autonomen Brutstätten des Widerstands und des Kampfes zur Geburt zu verhelfen. Brutstätten, die unabhängig sind von Tyrannen anderswo, unabhängig von geopolitischen Spielen, welche Staaten der gesamten Welt auf dem Rücken der Bewohnerinnen und Bewohner palästinensischer Gebiete und Lager mit ihnen treiben; autonome und selbstorganisierte Kampfgruppen.
Auch hier in West-Europa wurde die von der “palästinensischen Sache” entfachte Empörung seit langem von linken und sozialistischen Parteien kultiviert und als Mittel zur Mobilisierung und Rekrutierung benutzt. Heute steigen andere (religiös-) faschistische Gruppen, denen daran gelegen ist, die alten rassistischen Mythen eines “jüdischen Komplotts” wieder aufleben zu lassen, in das Spiel ein. Eine “Solidarität”, die nur dazu dient, die eigene Autorität zu stärken und/oder zu vergrößern, kann nur ein leeres Gehäuse sein. Solche Instrumentalisierung zurückzuweisen bedeutet den Kampf für Freiheit wieder zurück an die Frontlinie zu tragen, ein Kampf, der im Westjordanland stattfindet, der genauso in Europa stattfindet, in Syrien wie in Lateinamerika, ein Kampf, der allen Festsetzungen, allen schmutzigen politischen Manövern, jeder reaktionären und konservativen Vision entgegentreten muss.
Weil wir es sagen müssen. Eine solche Dynamik existiert auch in den palästinensischen Gebieten. Die neue Palästinensische Autonomiebehörde übernimmt von den alten politischen Organisationen die Erzählung vom Widerstand, um die erworbenen Sitze und Privilegien zu legitimieren. Und in der Zwischenzeit versuchen westliche NGOs, dem immer noch existierenden Widerstand eine moralische Zwangsjacke anzulegen, um ihn für ihre Sponsoren leichter verdaulich zu machen; eine moralische Zwangsjacke, die in der Ablehnung und Verdammung von Zusammenstößen, Ausschreitungen, Sabotagen und bewaffnetem Kampf besteht.
Autonome Initiativen des Widerstands, somit gegenüber existierenden Machtgruppen unabhängig und feindlich eingestellt, könnten befreienden Ideen Sauerstoff geben und der permanenten Kriegsmobilisierung und der erstickenden militärischen Besatzung Risse zufügen. Dort genau so wie hier.
(P.S. Es ist unmöglich, in einem so kurzen Text die gesamte Situation in all ihren Nuancen zu analysieren, ja nicht mal in einem viel längeren. Hier wurde die Militäroperation in Gaza als Anfangspunkt genommen für einen Versuch, diese Fäden zu entwirren. Ein anderer Anfangspunkt oder eine vertiefte Analyse würde ohne Zweifel andere Punkte aufwerfen.)
Wenn Konflikte in den israelischen und palästinensischen Gebieten in den Straßen Europas widerhallen, kann man oft alle möglichen Hüter der Ordnung hören, die davor warnen, externe Konflikte zu “importieren”. Währenddessen ist es ein leichtes für die Repressionsindustrie, geschützt vor den heulenden Stürmen, über die Grenzen hinweg zu springen und nach Belieben neue Kontrolltechnologien und Instrumente für Massaker zu importieren und exportieren.
Das europäische Forschungsrahmenprogramm FP7 (gefolgt von Horizon 2020) vergab Milliarden von Euro Subventionen an Universitäten und Unternehmen in europäischen Ländern, einigen anderen Ländern auf dem europäischen Kontinent und in Israel. Die größten Waffenhersteller in Europa haben sich dieses Geld in ihre Taschen gesteckt, wie auch mehrere wichtige israelische Akteure auf dem Markt des Todes wie Israel Aerospace Industries (ein im Besitz des israelischen Staates befindlicher Waffenproduzent, der seine Drohnen an “europäische Bedürfnisse” angepasst hat, die sowohl zur Grenzüberwachung gegen Migration als auch als Waffe gegen zivile Unruhen und Kriminalität eingesetzt werden), Elbit Systems (ein israelisches unter anderem in den Bau der Trennmauer involviertes Unternehmen, das an einem Forschungsprojekt zur Absicherung europäischer Flughäfen teilnahm), die IMI Academy for Advanced Security & Anti-Terror Training (von Veteranen der israelischen Sicherheitskräfte etabliert, erhielt EU-Subventionen im Austausch für seine Hilfe in Strategien gegen Radikalisierung), die israelische Zweigniederlassung von Motorola (konstruiert “virtuelle Zäune” um israelische Siedlungen) und Aeronautics Defense Systems (in Israel ansässiges Unternehmen, spezialisiert auf unbemannte Flugkörper, Wasser- und Landvehikel). Belgische Universitäten wie die KU Leuven und UGent arbeiteten in Forschungsprojekten zusammen mit israelischen Waffenherstellern.
Um ein konkretes Beispiel für die repressive Zusammenarbeit von Behörden zu geben: Videoüberwachungskameras eines israelischen Unternehmens wurden überall im Polizeidistrikt des Brüsseler Vororts Ixelles installiert. Die Stadt Brüssel hat einen Vertrag unterzeichnet, demgemäß sie dem israelischen Staat auf Verlangen Bilder dieser Kameras zur Verfügung stellt.
Dann gibt es neben diesen Waffenproduzenten noch so viele andere Unternehmen, die mit der Kolonialpolitik des israelischen Staates Geld machen, wie Caterpillar (baut Bulldozer, die speziell für die Zerstörung von Gebäuden in den besetzten Gebieten konstruiert sind), Hewlett-Packard oder HP (liefert informationstechnologische Hardware an die Besatzung, speziell zur Ausstattung der Checkpoints), Ernst & Young (multinationales Finanzberatungsunternehmen, von Israel angestellt, um Touristen und Investoren anzulocken), und G4S – darf natürlich nicht fehlen – das mehrere Checkpoints und Gefangenenlager in Israel betreibt.
Quelle: Hors Service, n.46, Brussel, Oktober 2014